Richard Clasen ist Prokurist und Bereichsleiter E-Business und digitale Ökosysteme bei der Adolf Würth GmbH & Co. KG. Er hat mir ein ausführliches Update gegeben, wie sich E-Business bei Würth entwickelt und was es mit den digitalen Ökosystemen auf sich hat, die Würth rund um seine Kunden aufbauen will.
Im Podcast sprechen Richard und ich über:
- Richards Werdegang im Vertrieb
- Wie es aktuell bei Würth läuft
- Ein Omnikanal-Strategieupdate
- Der E-Business-Anteil bei Würth
- Status quo der Akzeptanz von “Digital” im Vertrieb
- Würths neuer Marketplace-Ansatz
- Das “digitale Würth-Ökosystem” und Software-Umsätze mit Handwerkskunden
- Richards Ausblick nach vorne
Richards Werdegang im Vertrieb
Richard ist ein klassisches Würth-Eigengewächs. Vom 19-jährigen Dualen Studenten zum 38-jährigen Digitalchef Deutschlands, groß geworden im Vertrieb und Vertriebler durch und durch. Immer bei Würth, fast 20 Jahre schon.
Er hat alles gemacht, was man bei Würth im Vertrieb machen kann: Regalböden im Würth Shop gewischt, Ware eingeräumt, im Außendienst verkauft, Niederlassungen geführt, Regionen verantwortet, Key Account Strukturen aufgebaut. Richard kennt die Momente, in denen man Kunden etwas verspricht, was Logistik, Produkt oder Service dann auch halten können müssen.
Das hat ihn qualifiziert und geprägt für seine heutige Rolle als Prokurist und Bereichsleiter E-Business und Digitale Ökosysteme. Übersetzer zwischen Vertrieb, Digitalteam und Softwareentwicklung, zwischen „digitalen Lösungen“ und den tatsächlichen Arbeitsabläufen draußen beim Kunden (und den Außendienstlern). Die Verkäuferinnen und Verkäufer im Außendienst und in den Niederlassungen, so Richard, sind seine ersten, internen Kunden. Für sie muss er die Customer Journey mitdenken.
Wie es aktuell bei Würth läuft
Bevor man über E-Business-Strategie spricht, lohnt der Blick auf die Zahlen. 2023/24 lief es für die Würth-Gruppe insgesamt ungewohnt zäh und „so schlecht wie in fast 20 Jahren nicht“, wie Richard offen sagt. Wer Würth kennt der weiß: Das klingt nach Jammern auf hohem Niveau, aber Fakt waren rückläufige Umsätze in Deutschland und auch in Künzelsau war die Flaute im Markt zu spüren.
Im E-Business dagegen ein anderes Bild: zweistelliges Wachstum von rund 15 % in einem Jahr bei rückläufigem Gesamtumsatz. Parallel dazu wurde der Kundenstamm, der aktiv eine E-Business-Lösung nutzt, ebenfalls um 15 % ausgebaut.
2025 steht das Geschäft wieder besser da: Würth Deutschland wächst um rund 3 %, der Kontaktpunkt E-Business legt um 7,8 % zu und wächst 2,5x so schnell wie das Gesamtgeschäft, gewinnt also weiter Anteile. E-Business ist Würths am stärksten wachsender Kanal und zweitgrößter Auftragsgenerator. In manchen Monaten liegt der digitale Umsatz sogar über dem der Außendienstumsatz (ich erinnere mich noch gut an den SAP-Auftragsgrund “Selbstgetätigter Auftrag beim Kunden”).
Richard steigt nicht auf meine Fragen ein, ob sich daraus eine Kanal-Schlacht entwickelt. E-Business ist kein Selbstzweck und kein Wettkampf mit Außendienst oder Niederlassungen. Entscheidend ist, dass das digitale Wachstum „im Unternehmen ankommt“ und echten Zusatzumsatz erzeugt. Auftragsverschiebung von analog zu digital? Das ist kein besonders spannedes Thema mehr für Würth.
Ein Omnikanal-Strategieupdate
Würth hat jahrelang das Thema “Multichannel” proklamiert. Multikanal ist klassischerweise definiert als: viele Kontaktpunkte, aber jeder für sich organisiert. Außendienst, Niederlassung, Telefon, Online, Lagerregal: alles existierte parallel.
Die Folge: Reibung im Kundenerlebnis. Ein Kunde bekam je nach Kontaktpunkt unterschiedliche Preise, musste sein Anliegen mehrfach erklären und hatte das Gefühl, dass beim großen Würth die rechte Hand nicht so recht weiß, was die linke tut.
Heute hat Würth umgedacht und alle Kontaktpunkte, wie E-Business, als Teil einer klaren Omnikanalstrategie definiert. Zielbild:
- Der Kunde soll sein Problem nur einmal schildern.
- Preise, Konditionen und Serviceversprechen sind kanalübergreifend konsistent.
- Digitale Tools können analoge Aktionen auslösen
Etwa, per App eine 24/6 (sic!)-Niederlassung betreten, Click & Collect anstoßen oder Waren aus einem Automaten ziehen. Dafür braucht es zwei Dinge: ein starkes Backend und eine veränderte Geisteshaltung. Richard sagt, dass sich so auch Rollen verändern: die des Außendiensts, der Niederlassungsmitarbeitenden und der Supportfunktionen. Omnikanalität ist bei Würth das Strategiefeld mit Zeithorizont deutlich über 2030 hinaus.
Der E-Business-Anteil bei Würth
Zahlen, die ich skizziere, ordnet Richard ein:
- 2015 lag der E-Business-Anteil bei rund 12 %
- 2020 bei knapp 20 %
- 2025 etwa bei 25 %
Über zehn Jahre hat sich der Anteil also mehr als verdoppelt – bei gleichzeitig stabilem bzw. insgesamt wachsenden Kerngeschäft. Das Digitalteam arbeitet mit einer klaren Zielmarke: Bis 2032 soll E-Business 35–40 % des Umsatzes ausmachen. Besonders stark im Fokus: wiederkehrende B- und C-Teile, Verbrauchsartikel, die Brot-und-Butter-Sortimente, bei denen ein persönlicher Kontakt im Bestellvorgang keinen Mehrwert mehr stiftet.
Gleichzeitig investiert Würth bewusst weiter in physische Nähe: Heute betreibt das Unternehmen in Deutschland rund 620 Niederlassungen. Weitere neue, kleinere, sehr baustellennah gelegene Formate sind geplant. Auch bei den stationären Kontaktpunkten sieht Richard für 2032 einen Umsatzanteil von 35–40 %. Der Rest entfällt perspektivisch auf Software, digitale Services und den klassischen Außendienst.
Leitplanke ist für ihn die „Rule of Third“:
- 1/3 persönliche Interaktion
- 1/3 Remote-Interaktion (z. B. Video, Telefon)
- 1/3 voll digitaler Self-Service
Diese Aufteilung entspreche dem, was Kunden heute wollten und vermutlich mindestens die nächsten zwei, drei Jahre auch weiterhin erwarten.
Status quo der Akzeptanz von „Digital“ im Vertrieb
Das alte Narrativ vom Außendienst als Gatekeeper gegen digitale Kanäle passt nicht mehr zu dem, was Richard erlebt. Er beschreibt seine Aufgabe so: Jede neue digitale Funktion muss dem Vertrieb eine Chance bieten. Nicht abstrakt, sondern sehr konkret, in Form von Leads, Anlässen für Gespräche oder Zeitgewinnen im Alltag.
Ein Beispiel: Im Online-Shop gibt es (zunächst für ausgewählte Kunden) einen zusätzlichen Button „Angebot anfragen“. Statt direkt zu bestellen, kann der Kunde eine Angebotsanfrage auslösen. Diese landet strukturiert beim zuständigen Verkäufer: als Hinweis in dessen Anwendung mit allen relevanten Daten.
Damit wird aus einem anonymen Online-Vorgang ein Gesprächsangebot. Besonders spannend für Kunden, die den Außendienst bisher kaum persönlich sehen wollten oder schwer erreichbar waren.
Solche Funktionen sind kein Zufall, sondern Ergebnis einer klaren Leitidee: Digitale Kanäle sollen die Wirksamkeit der Verkäuferinnen und Verkäufer erhöhen, nicht sie schwächen. In Kombination mit Richards Herkunft aus dem Vertrieb, er hat das ja selbst 15 Jahre gemacht, und seinem dichten, persönlichen Netzwerk in die Fläche sind aus einstigen Skeptikern aktive Ideensammler geworden. Heute kommen die Impulse oft aus dem Vertrieb in Richtung Digital und nicht umgekehrt. Ein Meilenstein der Entwicklung vom IT-getriebenen Bestellwerkzeug über ein Marketing-Gimmick hin zum echten Vertriebskanal.
Würths neuer Marketplace-Ansatz
Unter dem Label E-Business fasst Würth vier Säulen zusammen:
- Online-Shop als das umsatzstärkste und am längsten etablierte Produkt.
- Würth App als derzeit der dynamischste Wachstumstreiber
- E-Procurement / EDI / Systemintegration wie direkte Anbindung an ERP- und Dealer-Management-Systeme, geschlossene Marktplätze wie Unite oder Simple System, Plattformen wie SAP Ariba, Onventis, Coupa usw.
- Externe Marktplätze als der noch der kleinste, aber strategisch spannender Block
Auf der Marktplatzseite fährt Würth zweigleisig:
Geschlossene Beschaffungsplattformen wie Unite oder Simple System: Hier ist Würth, weil die Kunden dort einkaufen wollen. Es geht um Maverick-Buying-Reduktion, zentrale Steuerung und Integration in die Procurement-Prozesse großer Unternehmen. Der Impuls kommt klar vom Kunden.
Offene Marktplätze wie Conrad: Hier dominiert eher die Neugier. Welche Kunden sind dort unterwegs? Was kaufen sie? Warum kaufen bestehende Würth-Kunden dort zusätzlich?
Parallel wurde mit der Würth-Tochter Wucato das Konzept “Würth One” aufgebaut: ein Mehr-Lieferanten-Marktplatz, an den der Würth-Online-Shop via Punch-out angedockt ist. Kunden können dort neben Würth-Artikeln z. B. beim Sanitär- oder Elektrogroßhandel, aber auch Kaffee, Milch oder Bonbons einkaufen, alles auf einer Rechnung.
Inhaltlich ist Würth damit im Longtail bei rund 3 bis 3,5 Mio. Produkten. Technisch nennt Richard die Lösung noch „Furz mit Krücken“: kein natives Sucherlebnis, Absprung nötig, UX nicht ideal. Trotzdem wächst das Modell und generiert spürbaren Umsatz.
Die nächsten großen Themen werfen bereits ihre Schatten voraus:
- Migration des Coresystems auf SAP S/4HANA
- End of Life für die heutige Onlineshop-Technologie zum Ende der Dekade
- Aufbau eines neuen Online-Shops mit integrierter Marktplatzfähigkeit ab 2026, schrittweise ausgerollt
Alles mit dem Ziel: ein One-Stop-Shop für Handwerk und gewerblicher Mittelstand im B-Teile-Bereich. Mit erweitertem Sortiment, besserem Sucherlebnis und integrierter Mehrlieferantenlogik. Für Großindustrie mit eigenen Preis- und Plattformlogiken arbeitet Würth an separaten Modellen.
Das „digitale Würth-Ökosystem“ und Software-Umsätze mit Handwerkskunden
„Digitale Ökosysteme“ ist bei Würth kein Buzzword im Organigramm, sondern eine eigene Abteilung und ein langfristiges Strategiefeld. Zum 01.01.2025 wurden verstreut arbeitende Teams in Richards Bereich zusammengeführt: Menschen, die sich mit digitalen Services, Software und Mehrwertlösungen rund um das Produkt beschäftigen.
Das Zielbild: Die digitale Plattform, über die Würth die Prozesse seiner Kunden so digital, einfach und effizient abbildet, dass beim Handwerker wieder mehr Zeit für die eigentliche Wertschöpfung bleibt.
Denn genau da sieht Richard das Problem: Bürokratie, Dokumentationspflichten, Normen, Prüfungen, Arbeitsschutz. Vieles davon sinnvoll, aber hoch aufwändig. Handwerksbetriebe und Mittelständler müssen heute Menschen dafür beschäftigen, statt sie produktiv auf der Baustelle oder in der Fertigung einzusetzen.
Beispiele, die heute schon laufen:
CENDAS / Brandschutzmodul: Projektplanungssoftware mit integriertem Modul für Brandschutzdokumentation. Ziel: statt Monaten nachträglicher Dokumentationsarbeit eine laufend gepflegte, digitale Lösung.
ORSY Online (Betriebsmittelverwaltung): Asset- und Betriebsmittelmanagement inklusive DGUV-Prüfungen – wer hat welches Gerät, wann ist welche Prüfung fällig, wo liegen die Nachweise, wenn etwas passiert? Alles zentral oder mobil verfügbar.
GBU-Manager: Eine neue Anwendung zur Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen für das Baugewerbe, rund 80–85 % der typischen GBU-Fälle lassen sich damit abdecken.
Der nächste große Schritt ist die Plattformkonsolidierung: Single Sign-on, Nutzerverwaltung, zentrale Kalender- und Datenlogik. Heute existieren viele Lösungen, aber noch nicht voll integriert. Bis Ende des kommenden Jahres soll eine vernetzte Plattform stehen, auf der alle Bausteine zusammenspielen – und dann Stück für Stück um weitere Software-Services ergänzt werden.
Damit verschiebt Würth einen Teil seiner Wertschöpfung bewusst in Richtung SaaS- und Service-Umsätze. Immer eng angekoppelt an das klassische Produktgeschäft, aber mit eigenem Geschäftsmodell.
Richards Ausblick nach vorne
Der Blick nach vorne ist bei Richard erstaunlich klar:
- E-Business-Anteil 2032: 35–40 %
- Ähnlicher Anteil über Niederlassungen
Der Rest verteilt sich auf Software/eServices und Außendienstumsatz in beratungsintensiven, größeren Positionen
Würth bleibt für ihn eine Service Company, deren USP Nähe, Verfügbarkeit und Umsorgung bleiben. Ergänzt, nicht ersetzt, durch digitale Kanäle und Software. Die „Rule of Third“ wird mindestens mittelfristig Bestand haben, auch wenn KI-gestützte Agentensysteme vieles verändern werden.
Spannend ist seine Haltung zum Thema „Live-Shopping“ vs. „Beschaffungsprozess-Vereinfachung“:
Social und Content sind für Würth wichtig für Marke, Reichweite und „Würth im Kopf“-Effekt.
Wirklich relevante B2B-Beschaffungsentscheidungen werden aus seiner Sicht aber nicht über Popo-Wackeln mit Akkuschrauber in der Hand getroffen, sondern über professionelle, integrierte Beschaffungsprozesse – zunehmend unterstützt durch KI und Suchmaschinen, die direkt in Systeme hineinbestellen.
Beschaffung sieht er als notwendige Unterstützungsfunktion, nicht als Wertschöpfungskern. Alles, was diese Funktion automatisiert, integriert oder nach hinten verlagert, verschafft Handwerkern und Industrieunternehmen mehr Zeit für das, womit sie ihr Geld verdienen. Genau dort will Würth mit E-Business, Marktplatz und digitalem Ökosystem andocken.
Seine eigene Inspiration zieht Richard vor allem aus drei Quellen:
- hochspezialisierte Mitarbeitende und Partner, die nahe an Plattformen und Systemen arbeiten,
- neugieriges Weiterbildungsverhalten (Podcasts, Studien, Whitepaper),
und ein intensiver Blick auf Märkte und Unternehmen durch sein privates Interesse an “Tech” und Tech-Aktien.
Neugier als Dauerzustand und ein ziemlich klares Bild davon, wie sich ein traditionell starker Vertrieb in eine digitale, aber immer noch sehr menschliche Vertriebsorganisation 2030+ verwandeln kann.
