Chancen und Möglichkeiten für den realen Einsatz dezentraler Infrastrukturen im B2B
Das Internet der Zukunft gehört uns allen. Seine nächste Iteration wird nicht von einigen wenigen, zentralen Playern dominiert, sondern aus dezentralen Netzwerken bestehen. Was bedeuten dezentrale Infrastrukturen aber für den B2B Digital Commerce? Und welche Vorteile kann er aus Blockchain-Technologie schöpfen? Ein Antwortversuch, um ein wenig Licht ins (Technologie-)Dunkel zu bringen.
Eines ist klar: Wer heute immer noch von Digitalisierung spricht, der wird wahrscheinlich gezwungen sein, vom Beckenrand zuzusehen, während alle anderen im Wasser planschen. Digitale Vertriebskanäle, PIM, ERP, MAM, SEO, SEA – all diese Evolutionsstufen sind zwar Teil einer nachhaltigen Ausrichtung des eigenen Geschäftsmodells. Im B2B aber muss man nicht jede Stufe der Digitalisierung mitgemacht haben, um am Ende ein trag- und zukunftsfähiges Geschäftsmodell entwickelt zu haben. Also: Hört auf, euch über Online-Shops Gedanken zu machen und widmet euch der Zukunft: den dezentralen Infrastrukturen.
Machen wir es anschaulich und starten mit einem Beispiel, das bereits im Markt aktiv ist und damit die Konzeptionsphase schon hinter sich hat. Damit nähern wir uns auch leichter den Vorteilen einer dezentralen Infrastruktur und speziell der Blockchain-Technologie an.
OpenSC: die transparente Lieferkette
OpenSC ist im Januar 2019 von Boston Consulting Digital Ventures (BCGDV) und dem World Wide Fund for Nature (WWF) in Australien gegründet worden. Die Vision ist einfach und doch sehr ambitioniert:
“Unser Ziel ist es, durch Technologien zur Rückverfolgbarkeit und Transparenz in der Lieferkette eine verantwortungsbewusste Produktion und einen verantwortungsvollen Verbrauch zu fördern.”
Warum gerade dieses Beispiel? Ohne die heutigen technologischen Möglichkeiten wäre das Geschäftsmodell nicht realisierbar: Denn OpenSC kombiniert das “Internet of Things” (IoT – Internet der Dinge) und Blockchain. Mit diesen beiden technologischen Komponenten wird OpenSC zur dezentralen Plattform, die eine lückenlose und transparente Dokumentation der gesamten Supply Chain abbilden kann. Damit haben alle Teilnehmer in einer Wertschöpfungskette zu jeder Zeit die Sicherheit, dass jede Wertschöpfungsstufe entsprechend der Vereinbarungen prozessiert wird. Zudem wird sichergestellt, dass sich alle Beteiligten auf ethische und moralische Werte verständigen und diese als Zulassungskriterium zur Teilnahme an der Plattform akzeptieren, die wiederum laufend überprüft werden.
Damit nicht genug: Ein weiterer Vorteil der Plattform ist die Automatisierung von Prozessen. Was heisst das konkret? Durch den Einsatz von IoT und Blockchain kann zum Beispiel der Wareneingang automatisch erfasst werden. Als zusätzliche Funktion kann – beispielsweise bei bestimmten Auflagen für den Transport (Kühlung etc.) – überprüft werden, ob alle Kriterien während des Transports eingehalten wurden. Ist dies der Fall, kann automatisiert der Wareneingang bestätigt und alle weiteren Prozesse angestoßen werden. Von der Produktionsdisposition bis zur Zahlung der Rechnung kann alles über Smart Contracts (keine Sorge, kommt später) automatisiert durchgeführt werden. Aufwändige, manuelle Kontrollen entfallen und Effizienzen werden gehoben.
Halten wir die Vorteile der Blockchain-Technologie in diesem Beispiel kurz fest:
- Transparenz der Wertschöpfungskette
- Verknüpfung mit anderen Technologien
- Automatisierung von Prozessen
Dezentrale Infrastrukturen als Nachfolger der Plattformökonomie
Der B2B Digital Commerce wird seit einiger Zeit von der Plattformökonomie getrieben. Im Kern geht es um die Frage: “build or join?”. Unternehmen fragen sich, ob sie zur Plattform für eine Branche werden sollen – oder aber sich einer bereits bestehenden Plattform anschließen, um positive Synergien zu erzielen und die eigene Vertriebsstruktur um einen Kanal zu erweitern.
Bei allen ökonomischen Vorteilen gibt es aber für alle Plattformnutzer einen entscheidenden strategischen Nachteil: Ist man nicht selbst der Betreiber, so begibt man sich in die Abhängigkeit eines Dritten, der neben einem Erlösmodell auch in Besitz sämtlicher Transaktions- und Nutzerdaten der Plattform selbst ist. Und eben diese Daten sind ein wichtiges Asset einer Branchenlösung. Ist man in deren Besitz, so kann man sich immer deutlicher von anderen Teilnehmern differenzieren oder aber Trends frühzeitig datengetrieben erkennen und entsprechend bedienen. Denn: Eine Plattform ist heute immer noch eine zentrale Institution, die Angebot und Nachfrage zusammenbringt und möglichst viele Mehrwerte für alle Nutzer schafft. Aber: Wer die Plattform kontrolliert, verschafft sich eben auch mehr Vorteile – sonst würde das ja keiner machen.
Was wäre denn aber, wenn die Vorteile einer Plattform mit einer dezentralen Infrastruktur kombiniert werden könnten? Setzt man beispielsweise auf Blockchain-Technologie als Infrastruktur einer Plattform und entfernt damit die zentrale Komponente, so sind die Transaktionen – natürlich nicht mit jedem Detail – von allen Nutzern einseh- und nachvollziehbar. Betrieb und Daten sind damit nicht mehr in der Hand eines einzelnen Plattformbetreibers, sondern über alle Teilnehmer verteilt. Damit erübrigt sich ein großes Risiko der heutigen Plattformökonomie. Vorbei sind die Zeiten, in denen der Plattformbetreiber den Kundenzugang derart für sich beanspruchen kann, dass jeder andere Nutzer sehr genau abwägen muss, ob diese Abhängigkeit einer relevanten Business Opportunity gegenüber steht – und ob es sich lohnt, den selbst beherrschbaren Kundenzugang über traditionelle Vertriebswege abzugeben.
Gewiss, das Szenario ist stark abstrahiert, liefert jedoch einen Denkanstoß dafür, was mit dezentralen Infrastrukturen alles möglich ist.
Nutzen von Blockchain für B2B Unternehmen
Eines vorweg: Kein Unternehmen sollte ein Blockchain-Projekt starten, nur dass diese Technologie eingesetzt wird. Klar ist, dass Dezentralität eines der wichtigsten Zukunftsthemen im Tech-Bereich Aber machen um des Machens Willen ist schon immer eine stumpfsinnige Unternehmensphilosophie. Leider gibt es viel zu viele Projekten, die technologiezentriert vorgehen. Und sie schüren den Eindruck, dass Blockchain nur die nächste Sau ist, die durchs Dorf getrieben wird. Jeder Technologieeinsatz muss einen konkreten Nutzen haben, jeder Use Case auch Mehrwert bringen. Wo liegen also die Mehrwerte, die dabei helfen können, sich Gedanken über Dezentralität im eigenen Unternehmen zu machen?
Prozesstransparenz schafft Vertrauen unter Unbekannten
Im Schaubild sehen wir, wie eine dezentrale Infrastruktur funktionieren kann. Der zentrale Intermediär fällt weg und jeder Teilnehmer der Blockchain ist Teil der Transaktionen bzw. muss diese bestätigen. Man spricht hier vom sogenannten Konsens-Algorithmus, der individuell für jede Blockchain gestaltet werden kann.
Ein großer Vorteil dieses Konsens-Algorithmus ist die Tatsache, dass – je nach Ausgestaltung – alle Teilnehmer der Blockchain in der Regel jede Transaktion verifizieren / bestätigen müssen. Heißt also, dass jeder Nutzer jede Transaktion bei sich mitprotokolliert. Das schafft Transparenz. Diese Prozesstransparenz bewirkt Vertrauen unter teilweise vollkommen unbekannten Teilnehmern der Blockchain. Im Hinblick auf weltweite Supply Chains bedeutet das einen enormen Vorteil für den B2B vor allem im Bereich der Beschaffung.
Durch die Transparenz können aber auch Echtheitszertifilakate, Prüfgutachen, Zollpapiere und weitere Dokumente in der Blockchain verankert werden. Achtung: Das bedeutet nicht, dass alle Daten und Dokumente auch in ihr gespeichert werden; das macht in den wenigsten Anwendungsfällen wirklich Sinn. Jedoch sind die Verweise, wo das jeweilige Dokument zu finden ist, dann im Block enthalten. Und das Ganze dann natürlich verschlüsselt, so dass nur die Teilnehmer die Dokumente ansehen oder öffnen können, die auch dazu berechtigt sind.
Automatisierung steigert Effizienzen
Weiter oben ist schon ein Begriff mit Klärungsbedarf gefallen: Smart Contracts. Nehmen wir dafür das zweite Schaubild zur Hand. Der dort dargestellte Prozess kann mit Hilfe eines Smart Contracts komplett automatisiert abgebildet werden. Damit meine ich nicht den Prozess der Auslieferung, sondern den Prozess der Transaktion “Warenausgang – Rechnung erstellen – Wareneingang und Warenprüfung – Rechnung begleichen”. Das aufgeführte Prozedere ist heutzutage noch mit manuellem Eingreifen verbunden. Was kann ein Smart Contract daran ändern?
Ein Smart Contract wird zwischen den Parteien (hier Verkäufer und Käufer) geschlossen. In diesem Vertrag werden alle Punkte die mit einer Warenlieferung verbunden sind definiert und abgestimmt – also analog zu einem Vertrag im klassischen Sinne. Der Unterschied zur Old Economy ist bei einem Smart Contract jedoch: Einmal abgestimmt werden alle im Contract enthaltene Punkte laufend überwacht und bei Eintreffen einer Gegebenheit automatisiert Prozesse angestoßen.
Ist also beispielsweise zwischen beiden Parteien vereinbart, dass die Rechnung zur Lieferung sofort nach dem Wareneingang beglichen werden muss, so stößt der Smart Contract automatisch die Bezahlung der Lieferung nach erfolgtem Wareneingang und der positiven Qualitätsprüfung an. Und der Freigabeprozess? Fehlanzeige. Freigaben sind nicht mehr erforderlich, weil im Smart Contract bereits alles definiert und vereinbart wurde.
Projiziert man diese Heuristik auf ein Unternehmen und deren Prozesse, so können sich hier beträchtliche Potentiale ergeben im Hinblick auf die Automatisierung von Abläufen. Das hebt Effizienzen innerhalb der Unternehmung , aber auch in der Interaktion mit Auftraggebern oder anderen Stakeholdern.
Kombination mit anderen Technologien
Verbindet man dezentrale Infrastrukturen beispielsweise mit IoT-Komponenten, so kann der Automatisierungsgrad und die Effizienzsteigerung noch beträchtlich ausgebaut werden. Bleibt man im vorangegangenen Beispiel mit der Warenlieferung, so kann durch IoT sogar der Warenein- oder -ausgang automatisiert erfasst werden und die nächsten Schritte anstoßen. In letzter Konsequenz könnte das dazu führen, dass wir die bekannten und teilweise stark verwurzelten ERP- oder Warenwirtschaftssysteme nicht mehr benötigen und deren Einsatz komplett überflüssig ist. Warum? Weil Produktionsstrassen sich dank IoT-Sensorik selbst überwachen, die automatisch platzierten Bestellungen von intelligenten Algorithmen disponiert und dafür notwendige Materialien beschafft werden. Das Rückgrat all dieser Überlegung: eine Blockchain, die sicherstellt, dass alle Transaktionen transparent vorgehalten werden und kein zentraler Intermediär mehr vonnöten ist. Die Zukunft? Das Ende eines zentralen und sehr schwerfälligen ERP-Systems – das Ende der AS400.
Zum Schluss: Wir stehen am Anfang
Dezentrale Infrastrukturen stehen vom heutigen Standpunkt aus betrachtet noch ganz am Anfang. Nichts desto trotz bietet die Technologie unglaubliche Chancen, das eigene Unternehmen, die Interaktion mit Auftraggebern oder Stakeholdern für alle Beteiligten effizienter, transparenter und schneller zu gestalten. Um das für sich selbst nutzbar zu machen, muss man jedoch ohne historisch gewachsene Denkmuster an die Sache herangehen. Was wir brauchen sind vollkommen unvoreingenomme Überlegungen darüber, wie man die Technologie mehrwertstiftend einsetzen kann. Darum kommt man nicht herum – erst der Use Case, dann die Technologie. Denn eines wird die Technologie in nächster Zeit auf keinen Fall lösen: mangelnde Kreativität und fehlender Mut in der Zukunftsgestaltung des eigenen Geschäfts.
Sehr inspirierender B2B-Ansatz, um die vorherrschenden Plattform- und Prozessrestriktionen zu überwinden – allerdings müssen die beteiligten Akteure diese Transparenz auch mitmachen wollen!?!?