“Lennart, wir wählen gerade ein neues Shopsystem aus und haben uns den Gartner Report angeschaut. Jetzt sind wir etwas unsicher, kannst du da bitte mal mit drüber schauen?” So eine Anfrage ereilte mich vor ein paar Wochen, als der neue Gartner Report erschienen ist. Ein B2B-Händler hatte meinen Rat erfragt, da das System, dass sie ausgewählt hatten, NICHT das führende System laut Gartner war – was zwischen Geschäftsführung, E-Commerce und IT-Abteilung für größere Unsicherheit gesorgt hatte. Solche Diskussionen und Prozesse habe ich schon zigfach erlebt und kann immer wieder sagen: Hier gibt es hohes Pain-in-the-Ass-Potenzial.
Wer oder was ist der Gartner Magic Quadrant?
Der Gartner Magic Quadrant (und seit einiger Zeit auch die beiliegende Research-Publikation Critical Capabilities Report) gibt jedes Jahr aufs Neue einen Überblick der wichtigsten Anbieter von E-Commerce Software. Er soll den Entscheidern dabei helfen, bessere Softwareauswahlentscheidungen zu treffen. Und natürlich hilft er auch Agenturen und den Softwareherstellern selbst dabei, die Marketingtrommel ordentlich zu rühren. Bei OroCommerce kann man ihn sich z.B. herunterladen.
Fairerweise ist in einer B2B E-Commerce-Welt, in der es wenig vernünftige Zahlen, Studien oder andere Dinge gibt, an denen man sich festhalten kann, der Gartner Magic Quadrant kein schlechter Indikator. In meinen Augen wird er aber oft überhöht – was dazu führt, dass auf seiner Basis schlechte Entscheidungen getroffen werden, da sie teilweise deutlich oberflächlicher getroffen werden, als wenn man sich richtig mit dem Thema beschäftigen würde. Ohne Führung würde ich dem Gartner-Pfad eher nicht folgen wollen.
Warum ist das so? Einerseits, weil die Darstellung in den vier “magischen” Quadranten ziemlich einfach – sprich “übersimplifiziert” ist. Viele von uns haben während Schule, Studium und Job gelernt, dass man in einer Vierfeldermatrix nur cool ist, wenn man oben rechts steht. Anders ausgedrück: Die Bandbreite der Softwarelösungen ist zu divers, die Anforderungen (auf die es nun mal ankommt) sind zu individuell, um eine “Hier genau stehen Sie” Aussage zu treffen. Am Ende führt kein Weg an zwei Dingen vorbei: Saubere Anforderungsdefinition (aber bitte nicht als Lasten- und Pflichtenheft, das war schon 2010 nicht mehr der richtige Weg #agile) und spezifisches Wissen über die verschiedenen Plattformen, gerne Inhouse, in der Regel aber über externe Beratungen. Aber der Reihe nach.
Wie kommt das ganze zustande?
Reports und Auszeichnungen werden in jeder Branche besonders gern von den Gewinnern als Werbung für ihr Produkt genutzt. Die Verleihung ist ein Ereignis. Das ist beim Oscar so wie beim Hohenloher Weinpreis: Wer hier punktet, kann etwas vorweisen.
“Gartner recognizes Spryker as a Visionary in the Magic Quadrant”
Spryker Website
Der Gartner Report (der Magic Quadrant und der Critical Capabilities-Report) ist das Ergebnis einer Analyse von Digital Commerce Plattformen. Wie nicht jeder Film für den Oscar nominiert wird, schaffen es auch nicht alle Plattformen in den Gartner. Und so wie eine Nominierung für die Oscars schon ein Auszeichnung ist – so ist die bloße Aufnahme in den Gartner Report ein “Ritterschlag” für die jeweiligen Anbieter. Gartner ist eine Institution und sowas wie der Vatikan unter den Softwareherstellern.
Leider nützt das den Entscheidern wenig, die sich nun einmal für eine konkrete Plattform entscheiden müssen – erst recht, wenn sich jeder Anbieter als Gewinner fühlt und präsentiert. Eine Erwähnung im Magic Quadrant bedeutet für die Softwarehersteller: Sie sind in der Champions League angekommen. Das ist zumindest der Eindruck, wenn ich LinkedIn öffne. Mindestens drei Hersteller reklamieren den Sieg für sich (Oro, Spryker, Adobe formerly known as Magento). Alle sind “DIE BESTEN” – wie kann das sein? Dass hier Verwirrung bei den Softwarekäufern entsteht, kann ich nachvollziehen.
Was steht drin im Gartner Report 2021?
Sehen wir in den Report hinein. Der Gartner Magic Quadrant misst die Performance von Digital Commerce-Plattformen und schiebt sie in verschiedene Bereiche seines magischen Quadranten:
- Leader (im Digital Commerce)
- Herausforderer
- Niche-Player
- und Visionäre
Die x-Achse soll die Schlüssigkeit der zukünftigen Plattformentwicklung (“Completeness of Vision”) und y-Achse die Umsetzungsfähigkeiten (“Abilities to Execute”) zeigen. Es scheint: Je weiter rechts oben eine Plattform positioniert ist, desto wirkungsvoller ihre operative Schlagkraft und desto verlässlicher die Adaptionsfähigkeit an zukünftige Entwicklungen – richtig?
Nein. Denn auf den zweiten Blick kann hier etwas nicht stimmen. Zwar liegen mit Adobe Commerce (Magento), SAP und Salesforce drei ausgewiesene Branchengrößen erwartbar vorn und dominieren den Bereich “Leader”. Aber klar leistungsfähige Player wie OroCommerce oder Shopware sollen abgeschlagen sein, sowohl in ihren technischen Fähigkeiten als auch in puncto Zukunftstauglichkeit? Hä? I tell you what: Vor allem Magento- und SAP-Lösungen wurden in den vergangenen Jahren oft ersetzt, eben WEIL sie nicht mehr weiterentwickelbar waren. Ist bei Gartner wohl nicht angekommen.
Generell finde ich Vergleiche schwierig, die ein System wie Shopify neben SAP neben Spryker neben Oro einordnen sollen. Das ist ein bisschen, wie wenn die AutoMotorSport einen Test zwischen einem VW Bus, einem Porsche und einem Motorrad macht.
Wie muss ich ihn lesen?
Wer solche “Learnings” als gegeben hinnimmt, stellt eine große Mauer zwischen sich und der Erlangung wirklicher Sachkenntnis. Um die Präsentation im “Magic” Quadrant besser deuten zu können, muss man selbst noch ein bisschen Magic machen, damit der Quadrant einen die richtige Fährte führt.
Im Grunde würde ich erstmal jeden Quadranten einzeln lesen. Dann sieht man etwas genauer, in welchen Bereichen wer die Nase vorn hat. Trotzdem reicht das noch nicht aus, um wirklich schlau draus zu werden. Daher würde ich immer den Critical Capabilites-Report mit hinzuziehen (Voraussetzung: Ich kenne schon grob meine Anforderungen, sonst sollte ich lieber ein gutes Buch lesen, Rolf Dobelli zum Beispiel)
Da ich OroCommerce gut kenne, mache ich das mal an diesem Beispiel. Oro ist im MQ im unteren linken Segment positioniert. Als Open Source Software ist Oro eigentlich überdurchschnittlich anpassungsfähig und damit auch zukunftsfähig (könnte man ggf. auch als visionär bezeichnen.) Aber die Plattform könnte je nach Betrachtungswinkel auch in einen anderen Quadranten fallen. Für Gartner zählt anscheinend, dass Oro die Plattform mit B2B-Fokus entwickelt hat. In dieser Logik wird Oro zum “Niche-Player” für B2B, wogegen grundsätzlich auch nichts einzuwenden ist – außer, dass der B2B Digital Commerce-Markt 1.234.534 Trilliarden größer ist als B2C, aber hey.
„Oro ranks first for the B2B digital commerce use case and highly for B2C and B2B digital commerce on the same platform“,
Critical Capabilites Report, Gartner 2021
sagt Gartner im CCR, vergibt mit 4,3 Punkten die höchste Bewertung im Segment, höher als Adobe (3,69), und bewertet sogar in der Leistungsfähigkeit “B2B2C” Oro besser als Adobe (3,84 vs. 3,76). Die Positionierung beider Hersteller im Magic Quadrant hängt mit dieser differenzierteren Bewertung nicht mehr wirklich zusammen. Aus dem CCR kann man herauslesen, dass sich beispielsweise Oro neben der B2B-Niche auch für eine spätere Erweiterbarkeit in Richtung B2C eignet. Im Magic Quadrant sieht man das gar nicht. Also: Lesen hilft! Doch in unserer schnelllebigen, oberflächlichen Instagram-TikTok-Informationsgesellschaft sind DeepDives ja mittlerweile eher verpönt. Der Magic Quadrant bedient die Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens – das muss reichen.
Dieses Beispiel macht deutlich, wie genau man den Magic Quadrant unter Berücksichtigung des CCR lesen muss, um einschätzen zu können, was genau welche Plattform leisten kann. Als Nebeneffekt versteht man aber auch die vielen selbsternannten Sieger – sie sind einfach als Punkt im Magic Quadrant verzeichnet. Everyone’s a winner – wie damals beim F-Jugend-Turnier, als auch der 17. noch einen Pokal bekommen hat.
Ist Garnters Magic Quadrant unabhängig?
Wahrscheinlich größtenteils, wenngleich viele der gelisteten Unternehmen Kunden bei Gartner sind oder Leistungen aus dem Umfeld der Reporterstellung oder aus der Software-Beratung bei Gartner einkaufen. Alles lukrative Geschäftsfelder von Gartner. Ich kann mir schwer vorstellen, dass das Unternehmen davon gänzlich unbeeinflusst bei der Erstellung seines Magic Quadrant bleiben kann. Die Analyse-Abteilung drückt jedoch relativ deutlich aus, dass man das Ranking im Gartner nicht kaufen könne. Die Einordnung einer Plattform in den Magic Quadrant erfolge ausschließlich bezogen auf ihre tatsächlichen Features.
Diese Frage würde mich aber auch nicht um den Schlaf bringen. Der Magic Quadrant stellt auch so eine zumindest beachtenswerte IST-Beschreibung der Branche dar. Und auch wenn ein Plattform-Anbieter mit einem Ranking im Magic Quadrant wirbt, bedeutet das nicht automatisch, dass er dieses Ranking einfach gekauft hat.
Fazit und Ehrenrettung
Der Gartner Report ist nicht nutzlos. Er bietet eine valide Übersicht relevanter Plattformhersteller, Dienstleister, Services und Softwares. Er bietet grobe Orientierung, ähnlich einem Kompass. Doch auch dazu muss man tiefer einsteigen, mindestens die Beschreibungen der Anbieter im Magic Quadrant lesen und die Deep Dives aus dem Critical Capabilites Report zurate ziehen.
Klar: Gartner will durch eine objektivierte Analyse ein sehr heterogenes Anbieterfeld vergleichbar machen. Sie suchen ihren Weg über die Einteilung in typische Digital Commerce Anwendungsgebiete und nachgefragte Fähigkeiten von Digital Commerce Plattformen (Use Cases):
- E-Commerce im B2C
- E-Commerce im B2B
- E-Commerce für B2C und B2B auf derselben Plattform
- Integrierbarkeit anderer Anwendungen (“Composable Commerce” aka die neuste Sau, die durch das E-Commerce-Dorf getrieben wird)
Die Use Cases haben einen Einfluss auf die spätere Verortung einer analysierten Plattform im Magic Quadrant. Innerhalb der Use Cases wird die Bewertung nach bestimmten Kriterien durchgeführt. An dieser Stelle ein weiterer Tipp: Die Bewertungskriterien im Critical Capabilities Report überfliegen. Dieser Report gehört quasi zum Magic Quadrant, gibt aber detailliertere Beschreibungen der Analysen als der Magic Quadrant.
Zwar bleiben die tiefen Einblicke den Gartner-Analysten vorbehalten, der Report und der Magic Quadrant geben nur oberflächlich Auskunft über konkrete Gründe des Abschneidens eines Anbieters, doch im Crititcal Capabilites Report findet man die analysierten Bereiche:
- Agilität und (technische) Flexibilität (agile and flexible)
- Modulare Ergänzungsfähigkeit
- Regionale Anpassungsfähigkeit (zum Beispiel an Sprache, Währung oder Steuern)
- Skalierbarkeit in Bezug auf das Geschäftsmodell: Bietet die Plattform parallel die Möglichkeit, B2B2X-Anforderungen zu erfüllen
Wer mehr will, muss schon eine ganze Stange Geld an Gartner überweisen – ACHSO! Das ist natürlich keine Philanthropie, sondern ein Geschäftsmodell – wer hätte das gedacht.