“Der reine Online-Handel im B2B wird nicht funktionieren. Da fehlt einfach der persönliche Kontakt, das wird immer am wichtigsten bleiben.” So oder so ähnlich klingen Sätze die in der Regel von älteren Herren in tradierten Handelsunternehmen oder Verbänden geäußert werden. Jedes Mal, wenn ein rein digital aufgestelltes B2B-Handelsgeschäftsmodell nicht nach einem Jahr über 100 Millionen Euro Umsatz (mit 15% EBIT) erwirtschaftet hat, beginnen schon die Abgesänge. Vielleicht ist die Verteufelung “Dieses Internets” ja auch nur eine letzte Nebelkerze vor der Pension? Erst neulich sagte der geschäftsführende Gesellschafter eines mittelgroßen Baustoffhändlers in meiner Anwesenheit sinngemäß: “Mich betrifft das ja nicht mehr mit diesem Internet, ich gehe in fünf Jahren in Rente. Aber ihr werdet noch ganz schön damit zu schaffen haben.”
Dass man mit einem gut aufgestellten, reinen online B2B-Handelsmodell sehr wohl erfolgreich im Sinne der betriebswirtschaftlichen Kennzahlen sein kann, diesen Beweis wollen Philipp Haferkamp und Gökhan Kizilay bei Certeo erbringen. Seit Anfang des Jahres bilden Sie das neue Geschäftsführungsteam des Stuttgarter Betriebseinrichtungshändlers, der wiederum zur Takkt AG gehört. Philipp ist in der Takkt AG als Trainee im E-Commerce eingestiegen und hat sich durch die Reihen relativ schnell in seine jetztige Position gearbeitet. Gökhan ist ein alter B2B-Direktvertriebshase, der früher bei Berner einen Teil des strategischen Einkaufs leitete, ehe er bei Contorion das Category Management und die Eigenmarke “Stier” aufbaute. In der Newport Group, einer Geschäftseinheit der Takkt AG in der alle Start-ups gesammelt sind, leitet er zusätzlich das übergreifende Category Management.
Certeo wurde auf warenausgang.com schon einige Male als gutes Beispiel herangezogen. Die Geschichte in einer Nussschale nacherzählt: Certeo wurde 2009 als reiner Onlinehändler für Betriebseinrichtungen bei Kaiser+Kraft gegründet und war längere Zeit stark in die Strukturen des traditionellen Betriebseinrichtungshändlers eingebunden. Der Kundenfoks von Certeo bezieht sich stärker auf KMU, die Mutter Kaiser+Kraft zielte seit jeher eher auf größere B2B-Kunden ab. Durch weitere Zukäufe im Digitalbereich der Takkt AG fiel jedoch auf, dass man das Unternehmen wohl stärker von der Muttergesellschaft lösen und ihm die Freiheitsgrade für weiteres Wachstum einräumen muss.
Zu dieser Zeit reifte in der Takkt AG auch die Idee, mit der Newport Group einen Hafen für alle neuen digitalen Geschäftsmodelle innerhalb des Konzerns zu schaffen. Sie gleichen sich in ihrem Verständnis für die Entwicklung des Marktes, der Kunden und der eigenen Fähigkeit, sich mit hoher Geschwindigkeit weiterentwickeln zu müssen. Gerade letzterer Aspekt sorgt dafür, dass diese Unternehmen andes gemanaged werden müssen, als etablierte Teile der Takkt AG, wie Ratioform oder Kaiser+Kraft. Die an Newport angeschlossenen Unternehmen greifen auf das Kompetenznetzwerk von Newport zurück. In ihm versammelt sind Spezialisten, die sich die einzelnen Unternehmen alleine oft nicht leisten könnten oder wollten. Ein ähnliches Konzept also wie bei einem “Operativen Venture Capital Fonds” wie Project A, dem Berliner VC hinter Contorion. Für Gökhan damals wie heute ein Schlüssel zur erfolgreichen Unternehmensentwicklung. Gerade erst hat die Takkt AG mit XXL Horeca einen Niederländischen B2B Pure Player aus der Gastronomiebranche übernommen, der aktuell in die Newport Group integriert wird.
Trotzdem werden die Unternehmen nicht zentral gesteuert. Die einzelnen Unternehmen sind so aufgestellt, dass sie in ihrem Markt schnell agieren und auf die Bedürfnisse des Marktes reagieren können. Die Newport Group dient vor allem als Ressourcen-Pool und Wissensplattform. Gökhan bekräftigt, dass es heute schon sehr gut gelingt, das Wissen innerhalb der Gruppe auszutauschen.
Auch Philipp sieht das Thema Newport als großen Vorteil. Das Wissen über gewisse Themen, wie Online Marketing oder Datenmanagement zu teilen erhöht die Qualität des Outputs für jeden Einzelnen. Auch bei der digitalen Technologie wird viel geteilt. Läuft z.B. bei einem der Checkout-Prozess besonders gut, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich andere von diesem etwas abschauen können relativ hoch, meint Philipp.
Doch die spannende Frage bleibt, ob B2B Online Pure Play langfristig funktionieren kann. Certeo, selbst schon im 10. Jahr am Markt, ist eine spannende Langzeitstudie, mit deren Hilfe diese Frage beantwortet werden kann. Auf meine Frage: “Kann B2B Online Pure Play überhaupt funktionieren” antwortet Philipp kurz und entschlossen mit “Ja, kann es.” Gerade die Erfahrungen aus dem letzten Jahr, in dem Certeo stärker in die Skalierung gegangen ist, sind für Philipp Grund genug, sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Doch der Erfolg kommt nicht von alleine, die Hausaufgaben müssen gemacht werden. Und diese Hausaufgaben geben in der Regel die Kunden vor. Um sich wirklich permanent auf den Kunden auszurichten baut Certeo gerade sein Sortiment um. Mit seiner Erfahrung aus dem Direktvertrieb und bei Contorion haben Gökhan uns seine Kollegen in der Newport Group mittlerweile auch eine Eigenmarke gelauncht. Dies soll dabei helfen, die Kauffrequenz zu erhöhen und Kunden besser ans eigene Unternehmen zu binden. Bei Contorion funktioniert dies mit Produkten der Eigenmarke “Stier” sehr gut. Neben Margenspielraum, den eine Eigenmarke grundsätzlich mitbringt, haben Unternehmen wie Certeo nun, nach 10 Jahren, erstmals die Möglichkeit, sich auch preislich attraktiv bei ihren Zielkunden zu positionieren. Für Philipp ist das Sortiment in Verbindung mit der Eigenmarke in Certeos Fall ein wichtiger Wachstumsfaktor.
Die Ausrichtung auf den Kunden bringt die Kennzahlen, mit der Certeo seinen Erfolg misst, in die richtige Richtung. Dazu muss Certeo auch online auf die ganze Palette der Möglichkeiten im Marketing Mix setzen. Nicht nur Kunden über z.B. SEO akquirieren, sondern auch dafür sorgen, dass mit den richtigen Marketingwerkzeugen die Kunden permanent angesprochen, reaktiviert und zum Wiederkauf animiert werden. Gökhan sieht auch den Mix im Marketing als entscheidenden Erfolgsfaktor an. Diese Erfahrung bringt er zudem von Contorion mit, wo z.B. das Thema CRM von null an aufgebaut wurde. Doch auch Themen wie der richtige Mix im Payment oder eine Marktplatzstrategie helfen “Online-Only-Geschäftsmodellen” dabei, auch ohne Außendienst erfolgreich zu sein. Der Fokus der letzen zwei Jahre lag bei Certeo auf der Effizienzsteigerung des Marketings. Dazu wird aktuell da CRM ausgebaut. Über Testkampagnen wurden in der jüngeren Vergangenheit zudem die Kanäle herausgearbeitet, die am besten funkionierte. Diese werden nun wieder befeuert, immer mit dem Ziel, Kunden zu reaktivieren.
Der Abnabelungsprozess der letzten Jahre hat auch gezeigt, dass einige Prozesse, die vorher einfach da waren, in der Übergangsphase fehlen. Ein Thema, in dem sich Certeo noch verbessern und Anlaufschwierigkeiten überwinden muss. Wo noch Lücken bestehen, muss ein motiviertes Team diese ausgleichen. Ein Beispiel hierfür ist das Sortiment, das nun in Eigenregie gemanaged werden muss. Das Onboarding der Lieferanten, die bisher einfach da waren, ist eine große Herausforderung, ebenso wie der Aufbau der Eigenmarken, die bei den Kunden immer beliebter werden. Dazu kommt die Logistikumstellung auf das Lager eines Dienstleisters.
Im E-Commerce-Kern, dem Certeo Online Shop, wird derweil weiter an der Optimierung der Customer Journey gearbeitet. Hierfür wird derzeit an der stärkeren Personalisierung der User Experience gearbeitet. Auch auf die Betreuung nach dem Checkout wird großen Wert gelegt, was vor allem daran liegt, dass Produkte wie Werkbänke teilweise erhöhte Aufmerksamkeit in der Logistik benötigen. Eine der wichtigsten Kennzahlen ist der Net Promoter Score. Je nachdem, welche Größe und welches Umsatzpotenzial die Kunden haben, werden diese zur Kundenbindung weiter betreut, über digitale und analoge Kanäle, wie z.B. das gute alte Telefon.
Pure Play E-Commerce ist ein hochgradig kennzahlengetriebenes Geschäft, so auch bei Certeo. Entlang der Vertriebs-Funnel misst Certeo insbesondere kundenbasierte KPIs wie die Akquisitionskosten (insb. bei Neukunden), die Kundenrückkehrs- oder die Kundenbindungsrate sowie die Bestellhäufigkeit. Auch die eigentliche Leistungsfähigkeit des Shops liefert wichtige Indikatoren für die Steuerung des Geschäfts. Die Kunst dabei ist, seine Analytics-Werkzeuge möglichst granular eingestellt zu haben, um z.B. Unterschiede im Verhalten zwischen einzelnen Kundengruppen feststellen zu können. Dies ist die Grundlage, um die richtigen Schlüsse für Vertrieb und Marketing zu ziehen – bzw. dort die automatisierten Kampagnen entsprechend zu steuern. Da es bei Certeo für Kunden zudem die Möglichkeit gibt, statt Warenkörbe direkt zu kaufen, auch ein Angebot dafür zu erhalten, wird die Erfolgsquote der Angebote (und somit des Vertriebsinnendienstens) ebenfalls permanent gemessen. Insgesamt, so Philipp Haferkamp, möchte man bei Certeo noch viel mehr der Datenpotenziale erschließen und noch datenbasierter arbeiten. Je mehr Datenpunkte zur Verfügung stehen (z.B. zu Kunden, Sortimenten, Vorlieben gewisser Kohorten etc.) desto besser und automatisierter läuft Certeos E-Commerce-Vertriebsmaschine.
Neben den Daten, die User im eigenen System produzieren, nutzt Certeo auch digitale Informationen, die online leicht zugänglich verfügbar sind. Es wird ausgewertet, welche Produkte auf den Marktplätzen oder beim Wettbewerb online gut laufen. Zudem gibt es über das Vertriebsteam eine direkte Rückkopplung zu den Kunden. Die Beherrschung von Daten, über die Erhebung, Auswertung und Wiederverwendung in Vertrieb und Marketing, ist absolute Kernkompetenz eines digitalen Pure Players. Es ist zudem oft der entscheidende Faktor, den Pure Player etablierten Unternehmen in der B2B-Online-Handelswelt voraus haben. Allein die Durchlässigkeit von Informationen über alle Unternehmensbereiche, von Vertrieb, Marketing, Innendienst oder Category Management, stellt für Certeo einen Wettbewerbsvorteil gegenüber in Silos organisierten, tradierten Unternehmen dar.
Um Certeo aus den bestehenden Systemen der Muttergesellschaft herauszulösen, entschied man sich für eine servicebasierte Architektur. Philipp Haferkamp sieht die Haupt-Herausforderung Certeos aus technologischer Sicht darin, flexibel auf Kunden- und Marktbedürfnisse reagieren zu können. Eine logische Konsequenz aus der datenbasierten Vertriebs- und Marketingsteuerung. Diese Geschwindigkeit ist ein weiterer Differenzierungsfaktor im Wettbewerb für Certeo. Die Wahl für die Systembasis fiel auf Spryker. Laut Philipp eine gute, wenn auch kostspielige Lösung. Die Fähigkeit, das Kernsystem weiter selbst im Haus entwickeln zu können, ist eine wichtige Komponente in der Unternehmensstrategie, allein um mit hoher Geschwindigkeit weiterentwickeln zu können und nicht auf Dritte angewiesen zu sein. Die Leitplanken eines Frameworks wie Spryker helfen, dabei, so Philipp Haferkamp. Zudem bietet es die Flexibilität, die man sich erwünscht, neue Softwarelösungen lassen sich schnell daran andocken und sorgen dafür, dass die Tech-Infrastruktur “nicht die teuerste der Bundesrepublik ist,” schließt Philipp Haferkamp.
Doch generell ist das Thema “Tech Ownership”, das auf warenausgang.com auch immer stark protegiert wird, ein Kernerfolgsfaktor, auch in der gesamten Newport Group. Die Geschwindigkeit des Wachstums eines jungen Pure Play Unternehmens mit der Skalierbarkeit der Technologie in Einklang zu bringen ist eine Herausforderung, so Gökhans Erfahrung.
Doch die beste Technologie hilft nur dann, wenn am Schluss alles sauber umgesetzt ist. “Saubere Execution” ist daher die Roadmap Certeos. Es ist relativ klar, was getan werden muss, nun geht es darum diese Themen ordentlich auf die Straße zu bringen. Gelingt das, dann “ist das für uns einer der Hauptwachstumsfaktoren,” so ist sich Philipp Haferkamp sicher. Dazu gehört der weitere Sortimentsausbau, das CRM und die Weiterentwicklung der E-Commerce-Plattform. So will Certeo weiter bei einer Run-Rate mittleren, zweistelligen Wachstums (prozentual) bleiben und der One-Stop-Shop für Betriebseinrichtung von B2B-Kunden werden.
In der Newport Group wird es weiter darum gehen, spannende Akquisitionsmöglichkeiten zu entdecken und den bestand der bereits angeschlossenen Unternehmen weiterzuentwickeln. Für Akquisitionen gibt es starke Auswahlkriterien. Profitabilität ist kein Rand- sondern ein Kernthema. So möchte es Gökhan mit seinen Kollegen schaffen, insgesamt als Business Unit der TAKKT AG an Bedeutung zu gewinnen, nicht zuletzt auch im Konzern. Für diesen Weg suchen Philipp Haferkamp und Gökhan Kitzilay weitere Mitstreiter. Egal ob Category oder Datenmanagement. Bewerben kann man sich, indem man sich mit den beiden auf XING oder LinkedIn vernetzt.