Gunther Hahn ist Digital-Veteran durch und durch. Seit seinem Start im Berliner Pixelpark in den neunziger Jahren hat er einige Stationen durchlaufen, allesamt im Digital-Geschäft – von der Agenturwelt zu Walbusch, über die eigene Unternehmensberatung zu Otto, dann Medion und Digitalisierungs-Chef bei Saint-Gobain. Seit knapp eineinhalb Jahren ist Gunther Hahn bei SLV für das Thema Digitalisierung zuständig, als Head of SLV Digital. In unserem Gespräch gibt Gunther tiefe Einblicke darin, wie sich ein lange klassisch aufgestellter Hersteller zum digitalen Vorreiter entwickelt. Spannend ist vor allem, wie SLV nicht nur auf ein neues Pferd setzt – etwa einen neuen Onlineshop als Vertriebskanal –, sondern zeitgleich sämtliche Bedürfnisse seiner Kunden mitdenkt und sich breit aufstellt. Auch wenn der Begriff “Best Practice” auf warenausgang.com eher verpönt ist – SLV kommt mit seiner Digitaleinheit dem Idealbild dessen, was B2B-Hersteller konsequent tun sollten, schon sehr nahe.
Sound, Licht, Video – und digital?
Für diejenigen, die SLV noch nicht kennen: SLV ist ein Hersteller von Licht- und Beleuchtungslösungen mit Sitz in Übach-Palenberg bei Aachen. Ging es noch vor vierzig Jahren um Disko- und DJ-Ausstattung, so hat sich SLV inzwischen zu einem großen, international tätigen Mittelständler entwickelt. Inzwischen ist die Belegschaft auf rund 650 Kolleginnen und Kollegen angewachsen, der Umsatz liegt zwischen 250 und 300 Mio. Euro.
Einigen mag SLV durch den “Big White” bekannt sein, den sehr dicken Produktkatalog, der lange Jahre als Google des Elektrikers galt: Wenn ein Elektriker früher Leuchtmittel gesucht hat, dann hat er auf den Rücksitz gegriffen, im Big White geblättert und das gesuchte Produkt für seine Kunden bestellt. Elektrik-Installateure zählen schon immer zur Kernkundschaft. Die ist aber um einiges diverser geworden: Inzwischen zählen zu den Kunden von SLV auch Großhändler, Elektro-Fachgeschäfte, Online Retailer, Messebauer, Gastronomen und viele mehr. Der Fokus liegt eindeutig auf B2B-Kunden, verstärkt sich aber immer mehr auch in Richtung B2B2C.
Der Big White hat mittlerweile Gesellschaft in Form digitaler Services und Absatzkanäle bekommen. Vor knapp eineinhalb Jahren wurde SLV Digital gegründet – der Bereich, den Gunther leitet. SLV Digital verfolgt eine klare Service-Strategie, die auf drei Säulen fußt: ein eigener Onlineshop names SLV Cloud, der Business Connect-Service und ein gezielter Marktplatz-Ansatz.
Vom “Monolithen-Moloch” zur SLV Cloud und Tech Ownership
“Als ich vor einem Jahr nach Übach-Palenberg gekommen bin, da haben mich mehrere Menschen mit ganz großen Augen angeguckt und gefragt: ‘Was machen wir denn jetzt?’ Da habe ich zurück gefragt: ‘Was haben wir denn schon?’“
Gunther Hahn über seinen Start bei SLV
Schon bevor Gunther zu SLV Digital kam, gab es einen eigenen Onlineshop, der sich vorrangig an klassische Elektro-Installateure, richtete. Gunther bezeichnet ihn als ‘Moloch’, das vielen bekannt vorkommen dürfte: langsam, komplex, teuer, fehleranfällig und vor lauter Features kaum beherrschbar. Die Frage war also, wie man hier weiter macht. SLV hat sich dazu entschieden, einen neuen Shop zu entwickeln – und zwar im MVP-Vorgehen. Wichtigste Anforderung: eine starke API-Ausprägung, mit der zusätzliche Funktionalitäten, Services und Devices in Zukunft angeschlossen werden konnten. Man wollte dafür gerüstet sein, zukünftig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu etablieren sowie sie an das bestehende Geschäft und Services anzudocken. Früh fiel die Entscheidung für eine Micro-Service-Architektur statt einer Standard Shop-Lösung – oder wie Gunther sagt: Lego spielen statt Playmobil.
Warum ist das so wichtig? Inzwischen haben rund 20 Prozent der SLV Produkte irgendeine Form von Netzkonnektivität, sind also vernetzt im Internet of Things. Innerhalb weniger Jahre soll das für die gesamte Produktpalette gelten. Und wo es jetzt für smarte Leuchtmittel meist um Helligkeit, Farbe und schlicht überhaupt eine Netzanbindung geht, so werden künftig unzählige Sensoren hinzukommen, von Temperatur über Rauchmelder oder Kameras. Sprich: Für Gunther ist klar, dass SLV unbedingt auf eine offene, Schnittstellen-affine Architektur setzen muss.
Die Lösung fand SLV Digital übrigens in Spryker als Commerce Operating System. Zwischen Projektstart im November 2018 und Go-Live Anfang August 2019 lagen rund acht Monate, vier davon für die technische Umsetzung des MVP gemeinsam mit Dienstleistern. Perspektivisch spielt für Gunther hier das Thema Tech Ownership eine große Rolle: Es sollen eigene Kapazitäten und Kompetenzen aufgebaut werden, um die SLV Cloud selbst zu betreiben und weiterzuentwickeln. Tech Ownership reicht dabei bis hin in die Produktentwicklung selbst, ist SLV doch im Bereich Smart Home und IoT unterwegs – und die große Konkurrenz entwickelt mit ebenso großen Teams weiter.
“In das Thema Digitalisierung müssen wir auch unsere Produkte geben, also die Digitalisierung von Leucht-Lösungen. Wir müssen einfach wissen, wie das funktioniert, weil IKEA, Philips und viele andere Wettbewerber im Bereich IoT und Smart Home unterwegs sind. Die warten nicht, bis wir da jetzt mit einer tollen Lösung um die Ecke kommen, sondern entwickeln mit großen Teams weiter.”
Gunther Hahn über die Digitalisierung der Produktpalette in Richtung Smart Home
“Business Connect”: Kunden anbinden und Basis für Digitalisierung schaffen
Die zweite Säule in der Service-Strategie von SLV-Digital ist das Thema Business Connect. Damit ist die Direktanbindung von großen Installateurbetrieben und Händlern gemeint, die dann maßgeschneiderte Produktdaten und Bestände direkt vom Hersteller bekommen. Die Betonung liegt dabei auf maßgeschneidert: Der Kunde sagt, welche Daten in welcher Form und welcher Regelmäßigkeit benötigt werden, und SLV stellt sie kundenspezifisch zur Verfügung – ganz gleich, ob nun per SAP-Anbindung, per API an das Warenwirtschaftssystem, per FTP oder eben per E-Mail. Möchte ein Kunde angebunden werden, so kann SLV das inzwischen innerhalb weniger Wochen umsetzen. Dafür wurde zuvor ein idealtypischer Projektablauf definiert und entsprechend Ressourcen sowie Expertise aufgebaut. Außerdem wurden PIM und DAM so optimiert, um effizient kundenspezifische Sortimente bilden zu können und Daten kanalgerecht bereitzustellen.
“Digitalisierung ist ja kein Geheimnis. Jeder große Partner digitalisiert. Und sie nehmen unsere Services freudestrahlend an und sagen: ‘Genau das brauchen wir eigentlich schon viel, viel mehr!’ Wir haben da mit gewissem Stolz im Beleuchtungskontext vermutlich eine Alleinstellung und das spüren wir, das ist gut.”
Gunther Hahn über gutes Kunden-Feedback als Indiz für eine erfolgreiche Service-Ausrichtung.
Gleichzeitig geht es SLV auch um den Input von Kundenseite, sprich um Bestellungen. Ziel ist es hier, Effizienz zu steigern, indem ein fehleranfälliger, manueller Prozess ersetzt wird und Ressourcen für andere Tätigkeiten freigemacht werden. So gibt es zum einen die klassische EDI-Bestellung und Bestellung per E-Mail, aber auch sogenannte Smart Orders, bei denen eine KI-basierte Software Bestellungen auswertet, sodass nur noch ein Bruchteil an Bestellungen tatsächlich manuell bearbeitet werden müssen.
Die Anbindung begreift SVL als Service für seine Kunden, nimmt ihnen also so viel wie möglich ab. Beide Seiten – Direktanbindung für Produktdaten und Bestände sowie Bestellungen – treffen auf sehr positives Kundenfeedback. Einerseits loben Kunden, wenn sie schnell per Business Connect Service angeschlossen werden. Andererseits sind sie danach auch bereit für die weitere Zusammenarbeit in digitalen Projekten, etwa Shop-in-Shop-Lösungen, Marketing-Kampagnen oder Kooperationen, für die SLV das Rüstzeug zur Verfügung stellen kann. Das heißt: Kunden werden nicht nur ‘connected’, sondern auch befähigt, sich in Zukunft noch stärker zu digitalisieren.
“Kunden, die wir digital anbinden und Kunden mit denen wir Produkt-SEO machen, entwickeln sich in den folgenden Monaten deutlich anders, als Kunden um die wir uns nicht digital kümmern. Das ist wirklich ein massiver Unterschied im zweistelligen Prozentbereich.”
Gunther Hahn über den Wert, den Business Connect für die Kunden von SLV schafft.
Marktplatz-Strategie: Richtig auftreten, wo alle suchen
Die dritte Säule in der Digitalstrategie von SLV ist der Marktplatz-Ansatz, allen voran die Kooperation mit Amazon. Schon früher gab es Produkte von SLV bei Amazon zu kaufen, da viele ihrer Kunden dort als Seller aktiv waren. Produktdarstellung, Produktabbildungen, Beschreibungen und Preise waren durch die Fragmentierung allerdings sehr uneinheitlich – der Reifegrad zwischen den Sellern variierte stark.
Zur Lösung des Problems fährt SLV nun ein Vendor-Modell bei Amazon, ist also first-party Verkäufer, konnte den eigenen Markenschutz durchsetzen und hat so den Vertrieb über Amazon stark professionalisiert. Dazu gehört es, gleichzeitig mit Amazon und den eigenen Kunden, die bei Amazon vertreiben, zu kooperieren – auch was die technische Infrastruktur betrifft. So befähigt die Direktanbindung der Kunden via Business Connect auch hier, einfache Sortiment-Updates auszusteuern oder per EDI-Vollintegration Bestellungen zu verwalten. Außerdem werden nicht alle SLV-Produkte auch von allen Partnern im Marktplatz angebunden, wodurch der direkte Absatz an Amazon auch seinen Teil beiträgt.
“Natürlich hat es ein Vendor öfter leichter, weil er eben schneller zum Kauf-Button kommt als ein Seller, das wissen wir alle, aber wir haben durch diesen Ansatz den Vertrieb über Amazon für alle Beteiligten professionalisiert.”
Gunther über Professionalisierung im Vertrieb über Amazon.
Wichtig war, dass die Kunden, die bisher auch schon per Marktplatz weiterverkauft haben, von dieser Offensive profitieren, sich also auch für sie Mehrwerte ergeben. Das ist durch die Vereinheitlichung der Produkte und Versorgung mit Daten, aber auch die Einlistung des fast kompletten Sortiments bei Amazon und die Kennzeichnung vieler Produkte als ‘Amazon Choice’ geschehen. Sprich: Dass sich SLV dem Marktplatz-Geschäft angenommen hat und es weiter ausbaut, bedeutet auch eine Chance für andere, die seine Produkte vertreiben.
Für die Zukunft blickt SLV auf weitere Marktplätze, die im B2C auch international wichtig sein könnten. Gleichzeitig schauen Gunther und sein Team auf andere B2B-Marktplätze, wo sie den Auftritt von SLV noch optimieren können.
“Die letzten zwölf Monate waren wichtig für uns, um das Geschäft zu verstehen, Tools aufzusetzen, Infrastruktur bereitzustellen – damit wir überhaupt mitspielen können. Das ganze Thema ist gerade zwölf Monate alt. Da haben wir natürlich viele Ideen und Gedanken, aber wir haben noch nicht alles gelöst.”
Gunther und SLV Digital haben noch einiges vor, um das Geschäft weiter erfolgreich zu digitalisieren.
Generell sieht Gunther Business-Ownership für jedes Unternehmen als essentiell an, das über Marktplätze vertreibt oder dessen Kunden es tun. Es sei wichtig, die Funktionsweise von Marktplätzen, ihre Struktur und Dynamik zu verinnerlichen. Andernfalls könne man nicht selbst steuern oder gar eigene zusätzliche Services entwickeln. Und wer das auslagere, der laufe Gefahr, sich von einzelnen Dienstleistern und Tools abhängig zu machen.