Das Unternehmen Sourceability ist mit der „sourcengine“ einer der ganz seltenen Fälle im B2B Digital Commerce, bei dem man von der Disruption des bestehenden, tradierten Geschäftsmodells sprechen kann. Auch wenn Jens Gamperl, Gründer und CEO, den Begriff “Disruption” nicht so gerne hört und auch weit davon entfernt ist, ihn zu verwenden. Jens ist mit 54 Jahren und einer Menge Erfahrung in der Elektro-Distribution sowie aus in den Neunzigern von ihm gegründeten Start-ups im besten Gründer-Alter. Er lebt mittlerweile in den USA, wo Sourceability 2015 in Miami mit acht Leuten gegründet wurde und neben vielen internationalen Niederlassungen bis heute seinen den Hauptsitz hat. In 2018, dem dritten vollen Geschäftsjahr, erwirtschaftet Sourceability bereits einen Umsatz von 160 Millionen US-Dollar und beschäftigt über 400 Mitarbeiter.
Obwohl die Halbleiterbranche mit Ihren Produkten einen Kernbestandteil der Digitalisierung liefert, hat die Branche in der Vergangenheit wenig Nutzen aus der Digitalisierung der Beschaffung gezogen. Distributoren wie Digi-Key, Mouser (das über TTI zu Warren Buffets Berkshire Hathaway Fonds gehört) oder Farnell stehen in der Kundenzufriedenheit oft an den obersten Stellen, haben jedoch erst vor einigen Jahren damit begonnen, E-Commerce richtig ernst zu nehmen. In dieser Gemengelage ist Sourceability als digitales Plattformgeschäftsmodell gestartet, das sowohl direkt bei Herstellern bezieht, als auch andere Distributoren auf seine Plattform zulässt. In Hongkong, Singapur und Miami werden drei eigene Distributionscenter betrieben, ein viertes wird gerade in Deutschland errichtet und soll in Q1 2020 ans Netz gehen. Von den 400 Mitarbeitern sitzen die meisten in Singapur und sind mit klassischen Aufgaben wie Sourcing, HR, Einkauf, Vertrieb oder Marketing beschäftigt. Vertriebsbüros gibt es u.a. auch in München und Amsterdam, in Europa arbeiten ca. 35 Mitarbeiter für Sourceability. Die zweitgrößte und am schnellst wachsende Gruppe an Mitarbeitern sitzt in Irvine, Kalifornien. Hierbei handelt es sich um den Softwareentwicklungsstandort. Die Büroräume, eigentlich für 100 Mitarbeiter gedacht und mit 20 Mitarbeitern bezogen, werden aktuell schon wieder zu klein. Im Tech-Bereich wächst Sourceability schneller als man ursprünglich vorgesehen hatte.
“Ich mag das Wort disruptiv nicht so sehr weil ich glaube, es birgt eine gewisse Arroganz, die gerade wir als Start-up nicht ausstrahlen wollen.”
Jens Gamperl prägt eine mittelständisch-bodenständige Kultur
Der Markt für indirekte elektronische Bauteile war vielleicht einer der ersten wirklich globalen Märkte der Neuzeit. Angefangen bei mittelständischen Familienunternehmen in Deutschland über die Vielzahl an Consumer-Electronics-Produktionsstandorten in Asien (50% des Umsatzes erwirtschaftet Sourceability dort), bis hin zu den USA und Guadalajara in Mexico. Wer in diesem Markt mitspielen möchte, muss in Sourcing und Vertrieb global agieren. Sourcengine hilft mit seiner Technologie dabei, die Transparenz über die Märkte herzustellen. Höhere Produktpreise europäischer Hersteller können so deutlich einfacher mit vermeintlich margenstärkeren Asien-Produkten verglichen werden. Das Geschäftsmodell lebt davon, den Sourceability-Kunden (OEMs und Auftragsfertigern) globale Transparenz über Verfügbarkeiten und Preise herzustellen. Die Plattform bietet nahezu 2.000 Hersteller und Distributoren als potenzielle Lieferanten.
Als verantwortlichem Sales Manager wurde es Jens in einem früheren Job bei einem Distributor zu blöd, dass seine besten Vertriebler 70% ihrer Zeit mit Excel-Tabellen beschäftigt waren. Auf der Kundenseite läuft die Beschaffung heute noch sehr oft über Excel-Tabellen ab, die an die Account Manager der Distributoren geschickt werden. In mühevoller Kleinarbeit bearbeiten diese dann die Listen mit zehn- oder zwanzigtausend Artikeln, identifizieren mit Hilfe Ihrer Erfahrung ca. 10% der angefragten Artikel als Stärken des eigenen Portfolios und geben diese dann an den Einkauf. Die Einkäufer schicken diese Listen dann an zehn bis zwanzig Lieferanten und erhalten somit auch wieder zehn bis zwanzig einzelne Listen zurück, die dann über Excel-Magic zusammengeführt werden müssen. Der Sales Manager hat dann von den ursprünglich angefragten zehntausend Artikeln fünfhundert (5%) angeboten und nur ein Teil wurde dann von den Kunden letztendlich tatsächlich bestellt.
Sourceability hat mit der sourcengine dieses Problem binnen zweieinhalb Jahren technologisch gelöst. Zu über 550 Millionen Artikelnummern können heute technische Produktinformationen kostenlos digital in Echtzeit zur Verfügung gestellt werden. Kunden, die heute eine „Bill of Material“ als Anfrage über mehrere tausend Artikel im System hochladen, bekommen in unter einer Minute ein Angebot aus den Daten aller ca. 2.000 angeschlossender Lieferanten der Plattform. Von einer Woche im alten Excel-Prozess auf eine Minute. Das ist eine Reduktion der Lead-Time von 99,99%, bei deutlich besseren Ergebnissen, denn die Angebote umfassen deutlich mehr als nur 5% der angefragten Artikeln.
Der Prozess wäre grundsätzlich in allen Branchen abbildbar, man denke an ein Bauprojekt, bei dem so alle Artikel in Echtzeit angefragt werden könnten. Doch die Datenbasis muss stimmen, um reibungslos Angebote über tausende Artikel von mehreren hundert Lieferanten in Echtzeit zu generieren. In der Halbleiterbranche sind längst nicht alle Anbieter digital perfekt aufgestellt. Weniger als 10% der Lieferanten stellen z.B. Ihre Verfügbarkeiten und Preise in Echtzeit bereit. Lieferanten, die z.B. lediglich über FTP-Server Updates einspielen, erzeugen im Zweifel nach wie vor eine Informationsasymmetrie, zum Leidwesen der Kunden. Von Lieferanten, die nach wie vor Excel-Listen per E-Mail schicken oder gar Hersteller, die nur pdfs zur Verfügung stellen ganz zu schweigen.
„Das zeigt auch: egal wie gut unsere Technologie ist, wenn der Lieferant nicht mindestens etwas hat, dass das supportet, dann funktioniert es nicht. Aber wir wissen (…) in zwei, drei Jahren werden wir alles über API machen. Wir müssen in der Lage sein, die Daten, die uns dann von den ganzen Lieferanten zur Verfügung gestellt werden, zu konsolidieren und einfach zu verdauen an den Kunden liefern. Am besten in deren ERP-Systeme, on-demand per API.“
Jens Gamperl sieht ausgeprägtere Tech-Kompetenz als zukünftige Kernkompetenz für Distributoren
Sourcengine wird somit immer mehr zur Datendrehscheibe, die unabhängig von irgendwelchen Frontends ist, selbst der eigenen Web-Oberfläche. Viele Kunden wollen die Daten in ihren ERP- und Bestellsystemen verarbeiten, sie in ihrer eigenen Umgebung wissen. Entweder on-demand oder in automatisierten Updates (Queries). Trotzdem bleibt der Marktplatz wichtig, z.B. für Bestellungen, bei denen der Warenkorb die 500-Dollar-Marke nicht überschreitet. Warenkörbe wie dieser kommen z.B. von Ingenieuren oder Produktdesignern, deren Anforderungen eher im Bereich der Lieferantenkonsolidierung und Belieferung am nächsten Tag liegen. Hier kommen oft die kleineren Distributoren, wie Digi-Key mit 3 Mrd. US-Dollar Umsatz, zum Zug. Die größeren, wie Arrow, erwirtschaften ca. 20 Mrd. US-Dollar Umsatz. Neben der Verfügbarkeit und den Preisen sind Produktdaten ein zentrales Thema, damit sourcengine funktionieren kann. In der Welt der elektronischen Bauteile sind Artikelnummern zu großen Teilen einheitlich, auch herstellerübergreifend stecken die gleichen Produkte hinter einer Artikelnummer. Diese Einheitlichkeit zieht sich bis hin zur Spezifikation des Packagings in der Artikelnummer.
Der technologische Ansatz der sourcengine-Plattform ist jedoch in allen standardisierbaren Branchen, in denen einigermaßen digitale Verfügbarkeiten, Artikelnummern (bzw. -daten) und Preise bestehen, reproduzierbar. Jens fallen dafür z.B. die Beleuchtungssortimente oder IT-Produkte, wie z.B. Farbkartuschen für Drucker ein. Doch viel spannender als eine klassische Sortimentserweiterung ist für Sourceability die flexible Einbindung ihrer Technologie in die Systemlandschaften der Kunden. Über APIs stellt die sourcengine beispielsweise Daten zur Verfügung. Doch nicht nur reine Daten, auch einzelne Service-Elemente können von Kunden abonniert und digital in die Software-Umgebungen der Kunden projiziert werden. Der Haupt-Service ist der des “Bill of Materials Management”, mit der für eine Artikelliste global Preise, alternative Produkte etc. gesourced werden können. So ist Sourceability mittlerweile ins Software-as-a-Service-Geschäft eingestiegen und bietet kundenspezifische Software-Lösungen.
“Business to Business heißt, ich muss etwas entwickeln, das skalierbar aber trotztdem auch personalisierbar ist.”
Jens Gamperl über Sourceabilities nächsten Schritt zum Software-Anbieter für die Halbleiterbranche
Auch wenn Sourceability heute wie ein Wettbewerber zu den klassischen Distributoren auf der Plattform erscheint, soll der Handel mit indirekten Bauteilen nicht die große Zukunft des Unternehmens sein. Innerhalb der nächsten 12 Monate will er die Plattform öffnen und die Lieferanten transparent machen. Das Fulfillment und die Rechnungsstellung soll dann nicht mehr ausschließlich über Sourceability abgewickelt werden, sondern auch von anderen Lieferanten der Plattform erledigt werden können. Jens sieht die zukünftige Entwicklung von Sourcability eher in den digitalen Wertschöpfungsfeldern. Sourceability soll die Datenmonster und die dadurch entstehende Komplexität im Hintergrund im Sinne des Kunden managen und für ihn die bestehenden Distributionsnetzwerke im Sinne seiner Beschaffung flexibilisieren.
“Mein Ziel ist es ja nicht große Läger zu bauen, die besten Läger haben heute schon die Digi-Keys, die Mousers, die Avnets und die Arrows. Ich würde lieber größere Data-Center bauen weil ich die bessere Information habe.”
Jens Gamperl möchte Sourceability als Informationstechnologieführer im Halbleitermarkt weiter etablieren
Die Beherrschung und das “Ownership” der Technologie stand für Sourceability von Anfang an im Vordergrund. Der Grundbaustein der Plattform wurde mit Spryker umgesetzt, die Berliner Agentur Turbine Kreuzberg half bei der Umsetzung. Der auf APIs basierte Ansatz von Spryker taugt Sourceability sehr gut. Stand heute sind diese Art von Schnittstellen die beste Möglichkeit, Daten in Echtzeit auszutauschen. Die Einfachheit, über APIs Bestellungen zu platzieren, wird nach Jens’ Dafürhalten dafür sorgen, dass APIs die Normalität bei den Schnittstellen werden, egal ob im Einkauf oder in der Fertigung. Stand heute ist Sourceability ein Vorreiter, wenn es um die Nutzung digitaler Technologie in der Halbleiter-Distribution geht. Doch die Rolle als “Market Educator” nimmt Jens gerne an und stellt den Sourcability-Ansatz geduldig vor. Geplant sind auch der Ausbau von Public Relations und des Marketings.
Obwohl bereits über 400 Mitarbeiter bei Sourceability beschäftigt sind, will Jens hier jedoch noch behutsam herangehen. Eine zu schnelle Skalierung würde für Sourceability bedeuten, dass die Kapazitäten für die Anbindungen neuer Kunden fehlen könnte. An einer Lösung, die Anbindung an den Marktplatz als “Self-Service” für Kunden anzubieten läuft jedoch und soll im vierten Quartal diesen oder im ersten Quartal des nächsten Jahres gelauncht werden. Sobald dieser Flaschenhals technisch gelöst ist, will Sourceability in Puncto Marketing in die Vollen gehen.
Bis 2022 sollen zwischen 1.500 und 2.000 Mitarbeiter bei Sourceability beschäftigt sein. Im Umsatz wird für 2022 eine Milliarde US-Dollar angepeilt, das Handelsvolumen der Plattform könnte dann schon drei bis vier Milliarden US-Dollar betragen. Auch die schwächelnde Weltkonjunktur hält Sourceability nicht von den ambitionierten Plänen ab: Während im Juli der Halbleiter-Markt global um 15% eingebrochen ist, wuchs Sourceability weiter und gewann weitere Marktanteile. Trotzdem möchte Jens in Anbetracht der Marktgröße von 400 Milliarden US-Dollar selbst bei vier Milliarden US-Dollar Handelsvolumen nicht von Disruption sprechen. Aufgrund des technologischen Vorsprungs von Sourceability gegenüber den anderen Marktteilnehmern wäre das durchaus drin.