Produktdatenliebe im B2B Digital Commerce #2 mit Claus Hänle

Teile diesen Beitrag in...

Im vergangenen Jahr haben wir eine Serie zum Thema Produktdaten gestartet – und heute machen wir (mit etwas Verspätung) weiter. Nun mögen sich einige mit glasigem Blick mental verabschieden, wenn der Begriff “PIM” fällt. In Wahrheit steckt aber in Produktdaten ganz viel Musik, schließlich ist das Thema einer der Grundpfeiler für die gesammelten Digitalisierungsanstrengungen im B2B Digital Commerce. Getreu dem Motto: Hinter jedem erfolgreichen digitalen Vertrieb steckt ein durchdachtes Produktdatenmanagement, oder so ähnlich.

Im neuen Podcast steht uns wieder Produktdaten-Experte Claus Hänle Rede und Antwort. Claus kümmert sich mit seinem Unternehmen Listen! Consulting technologieunabhängig um das Thema Produktdaten. Seit 2001 beschäftigt sich Claus damit, erst ganz analog, dann im Digitalen. Inzwischen kümmert er sich bei Unternehmen vom Mittelständler bis zum Milliardenkonzern um Produktdaten, Produktdatenorganisation, PIM-Systeme und Produktdatenmangagementprozesse. Claus ist B2B-Produktdaten-Virtuose. So hat er uns bereits letztes Mal verraten, dass 95% seiner Projekte mittlerweile B2B-Fokus haben.

Mit uns spricht er über aktuelle Trends von Cloud über PXM, welche Kriterien für eine Systemeinführung relevant sind, wie man Daten sinnvoll strukturiert und die Rolle von Produktdaten-Standards. 

Cloud als Game Changer

Jetzt, da die Cloud nicht mehr als die Wurzel allen Übels im Mittelstand gesehen wird, investieren auch PIM-Anbieter vorsichtig in Cloud-Lösungen. Wo 2019 nur einige Exoten investiert haben, macht sich nun Bewegung bemerkbar – sowohl auf Systemanbieter-, vor allem aber auch auf Kundenseite. Die Bereitschaft steigt, nicht mehr jede Software im eigenen Datacenter selbst zu betreiben, und einige Kunden machen den Sprung direkt in die Cloud. Und die Anbieter stehen bereit. Beinahe jeder Softwarehersteller treibt sein Cloud-Angebot voran, die funktionale Dichte wird immer höher. Dennoch haben die klassischen Spieler noch immer eine Nasenlänge Vorsprung.

Riversand hat etwa stark reinvestiert, seine alte Plattform über Bord geworfen und eine komplett neue entwickelt. Eine ähnliche Entwicklung sieht man auch bei Contentserv. Aber nicht nur die ganz großen, sondern auch die mittelständischen Anbieter wie Akeneo entwickeln sich kräftig weiter. Dennoch ist es schwierig, nur einzelne Anbieter herauszupicken, da sich alle der Thematik durchaus bewusst sind und investieren. Was sich festhalten lässt: Die Cloud-native Spieler haben zwar häufig noch nicht die vergleichbare Funktionsdichte, stehen aber vom Technologieansatz her sehr gut da.

Eine Frage der Philosophie: PIM, MDM, PXM? 

“Die Marketingleute der Softwarehersteller und die Berater sind ja immer schuld, dass da wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird, wenn wir neue Begrifflichkeiten finden müssen.”

Claus über das wachsende Glossar im PIM-Umfeld

Auch die Terminologie gedeiht moment prächtig im Produktdaten-Umfeld. Das ist natürlich, so Claus, einerseits dem Abgrenzungsbedürfnis von Marketing-Leuten und Beratern geschuldet, weist aber auch auf unterschiedliche Philosophien der einzelnen Systemhersteller hin. PIM – den Klassiker – gibt es bereits seit zehn bis fünfzehn Jahren, inzwischen bezeichnen aber einige Anbieter ihre Lösung als Master Data Management (MDM). Der Grund dafür ist ganz einfach: Einige wollen eben mehr als “nur” Produktdaten machen, sondern mehrere Formen von Stammdaten zugleich, etwa Kundendaten, Lieferantendaten, Standorte oder dergleichen.  

Die neueste und wahrscheinlich spannendste Entwicklung ist Product Experience Management, kurz PXM. Was ziemlich nach Marketingabteilung klingt, ist jedoch Zeugnis einer gänzlich neuen Philosophie. Die Software dahinter ist nicht groß anders als ein klassisches PIM. Die Ausgangsfrage aber ist eine andere: Welche Erfahrungen und Erlebnisse passieren mit meinen Produktdaten? Produktdaten werden hier für eine Personalisierung des Angebotes genutzt. Und um das zu leisten, müssen die Produktdaten noch viel mehr über sich selbst wissen. Etwa: Wann passt eigentlich das einzelne Produkt zum Angebot, also zu welchem Zeitpunkt will der einzelne Kunde genau dieses eine Produkt finden und welche Informationen braucht er in dem Moment? Dafür müssen die Softwarepakete ausgelegt sein. Sie müssen in der Lage sein, das richtige Bild mit der richtigen Ansicht, den richtigen Text oder das Zertifikat, das notwendig ist, dann zu ziehen, wenn der Kunde sie sehen will. Das muss aber das Datenmodell auch hergeben – und die Datenpflege muss es natürlich auch gewährleisten.

Entscheidend ist nicht tatsächlich die Software, die dahintersteckt, sondern eher das Konzept für die Produktdaten. Ist es ein notwendiges Übel oder ist es echter Unterscheider für den Hersteller zu seinen Wettbewerbern? Und da kommt dann Product Experience Management, das im Wesentlichen sagt: Nutzt die Produktdaten für eine Personalisierung deines Angebotes.

Claus Hänle über PXM

Es geht also nicht so sehr um “Lifestyle”, sondern darum, Produkte durch die passenden Attribute für den Kunden erlebbar zu machen. Statt nur irgendein Bild und einen Beschreibungstext anzuzeigen, ist die Idee, das Frontend in Abhängigkeit der Kundeninteraktion zu stellen. Man muss sich also bereits im Vorfeld viel mehr Gedanken über Kunden und ihre Bedürfnisse machen, über einzelne Use Cases und wie sich Produkte voneinander unterscheiden.

Entscheidende Kriterien bei der PIM-Einführung

Claus verrät uns auch einige der wichtigsten Kriterien, die man beachten sollte, bevor man ein neues Produktdaten-System einführt. An oberster Stelle steht für ihn die Frage nach dem eigenen Geschäftsmodell, sprich: ob man Hersteller oder Händler ist. Klingt erst einmal offensichtlich, ist aber ganz entscheidend, weil daran sehr unterschiedliche Prozesse hängen. Händler haben die Herausforderung, dass sie mit vielen Lieferanten zusammenarbeiten, was die Datenqualität vor gewisse Schwierigkeiten stellt. Nicht jedes PIM bringt die dafür notwendigen Komponenten mit, etwa ein Lieferantenportal, Lieferantendaten-Connector oder Schnittstellen zu standardisierten Datenpools – alles, was beim Onboarding von vielen externen Teilnehmen notwendig sein kann. Für Hersteller ist das abzubildende Datenmodell häufig reichhaltiger und umfangreicher als bei klassischen Händlern. Sie stehen vor der Herausforderung, oftmals viel mehr Informationen verwalten zu müssen, um etwa Produktkonfiguratoren zu befeuern.

Zweitens stellt sie die strategische Frage, ob man das einzuführende System selbst konfigurieren will oder das an einen Dienstleister abgibt. Die Systeme werden immer stärker konfigurierbar, viele weisen aber auch einen großen Programmieranteil auf. Das kann die Ressourcen eines kleinen oder mittelständischen Betriebs schnell überfordern. Bis vor einigen Jahren gibt der Trend stark dorthin, PIM-Systeme wegen spezieller Anforderungen individuell zu entwickeln bzw. entwickeln zu lassen. Inzwischen sind die Systeme so weit herangereift, dass Claus viel eher zum Softwarekauf rät, sprich: dort zu investieren, wo andere viel Geld und Kopf reingesteckt haben und nicht immer alles selbst zu programmieren.

An dritter Stelle steht die Frage danach, wie das System betrieben werden soll, vor allem die Frage nach der Cloud: Darf ich es in der Cloud betreiben? Möchte ich es in der Cloud betreiben? Reicht es, wenn es beim Dienstleister betrieben wird oder muss es im eigenen Datacenter sein? Letztlich geht es natürlich auch um den Funktionsumfang. Hier rät Claus dazu, vor allem auf das Datenqualitätsmanagement zu achten. Die Lösung sollte in der Lage sein, bei einer hohen Produktanzahl die Datenqualität zu messen, zu überwachen, zu kommunizieren und zu steigern. Da unterschieden sich die Anbieter funktional.

Am Anfang steht die Struktur

Was das Thema Datenstrukturierung angeht, sieht Claus die größten Herausforderungen aktuell bei Herstellern. Oftmals beliefern sie inzwischen mehrere große Marktplätze sowie mittelständische und Großhändler gleichzeitig – und jeder hat ein eigenes Format, in dem Produktdaten aufbereitet sein sollten. Keine leichte Situation, alle Eventualitäten in die Produktdaten einzubauen und sämtliche Vertriebskanäle und Händler passend zu bedienen. Für Claus ist entscheidend, bei aller guten Datenstrukturierung und jedem ausgefeilten Datendesign vor allem flexibel genug zu bleiben, um Daten individuell anpassen zu können.

Dennoch gibt es für die Datenstrukturierung einige Kernkonzepte zu beachten. Das erste ist, eine passende Produktklassifikation zu entwickeln. Das heißt, Produktkategorien festzulegen und für jede Kategorie zu entscheiden, welche Attribute dafür relevant sind. Ganz konkret: Man sollte sich Gedanken machen, welche Produkte man vermarkten möchte und welche Informationen dafür notwendig sind. Hat man ein breites Sortiment, sind das natürlich nicht für alle Produktkategorien die gleichen Informationen. Verkauft man zum Beispiel eine Leuchte, hat sie andere Attribute, wenn sie im Außenbereich oder im Innenbereich eingesetzt wird. Und will man das Leuchtmittel oder das Kabel dazu verkaufen, dann sind es nochmal andere Attribute, die relevant sind. Ziel ist immer, dem Kunden das passende Erlebnis zu bieten, so Claus. Macht man es clever, ist es auch möglich, Werte durchzuvererben, was die Datenpflege um einiges erleichtert. 

Entscheidend sind zudem Metadaten von Attributen zu berücksichtigen, also zum Beispiel festzulegen, ob ein Produktbild eine Vorder- oder eine Rückansicht ist – Informationen, die für das Kundenerfahrung nachher eine erhebliche Rolle spielen. Hinzu kommt, sich zu überlegen, welches Artikelmodell vorliegt. So macht es einen Unterschied, ob man ein mehrstufiges Artikelmodell mit habe ich ein Produkten und Produktvarianten hat oder ob es sich beispielsweise nur um Varianten handelt. Das sauber abzubilden, um daraus später dann Werbemechanismen abbilden zu können, Datenpflege zu vereinfachen und die Kundensprache zu sprechen, sind für Claus die wichtigsten Punkte.

Standards durch Coopetition

“Mein Credo ist: Geht zusammen, definiert [Standards]. Es ist kein leichter Prozess, weil einfach viele große Spieler da sind, aber gebt die Berührungsängste auf. Steckt mehr Energie in die Frage, was man mit den Daten macht, wenn man sie hat, als in die Frage, wie man die Daten besser hinbekommt als die anderen. Da ist mehr Nutzen drin.”

Claus Hänle fordert mehr Kooperation auch unter Wettbewerbern.

In einigen Branchen, etwa der Elektronikbauteil-Branche, sind etablierte Produktdatenstandards bereits die Norm. In den meisten Bereichen gibt es allerdings weder Standards noch Daten-Pools, aus denen sich Marktteilnehmer bedienen können. Dort tun sich aktuell Unternehmen zusammen und versuchen solche Pools zu entwickeln. Das ist aber immer eine Frage der kritischen Masse und der Marktmacht einzelner Player. 

Claus Hänle sieht hier eine enorme Herausforderung, vor allem in der Politik dahinter. Schließlich geht es bei der Etablierung von Standards immer auch darum, wem der Standard letztlich gehört, wer mitwirken darf, wem eine Klasse gehört und wer beeinflusse kann, welche Attribute in welcher Klasse gepflegt werden. Der steinige Weg kann sich aber durchaus auszahlen: Der wesentliche Vorteil ist, dass die Kommunikation zwischen Hersteller und Händler über Standards gebündelt werden kann. Das entlastet den Hersteller, weil er weiß, was er liefern muss und es entlastet den Händler, weil er weiß, was er kriegen kann. Auf Standards als Lösung für geringe Datenqualität zu hoffen, davon hält Claus allerdings nichts.

Allerdings rät der PIM-Experte dazu, Berührungsängste aufzugeben. Oft erliegen Unternehmen einen Trugschluss. Sie vermeintliche Marktvorteile durch ihr aufwändiges Datenmanagement nicht dadurch gefährden, dass sie Daten mit dem Wettbewerb teilen. Dem widerspricht Claus Hänle stark: Schaut man sich Händler oder Verbände an, steckt der wesentliche Vorteil nicht darin, Produktdaten vom Hersteller besonders strukturiert zu bekommen, sondern darin, das Richtige aus ihnen machen zu können – Stichwort: Experience Management. Standard-Attribute für einen Lichtschalter, wie Länge, Breite, Höhe, Spannungsklasse, Schutzklasse und so weiter, das unterscheidet einen nicht vom Wettbewerb. 

The Golden Record

Claus Hänle bringt abschließend auch Licht in ein Thema, das zwar häufig im PIM-Kontext diskutiert, aber selten richtig verstanden wird: den “Golden Record”. Im Podcast definiert ihn Claus als “die gültige, konsolidierte Sicht auf ein Produkt und dessen Daten, wobei die Daten aus unterschiedlichen Quellen kommen können.”

Bevor die Thematik aufkam, gab es folgendes Problem: Wenn ein Lieferant früher Daten geschickt hat, die einem nicht ganz gepasst haben, hat man sie einfach überschrieben. Da dadurch aber Daten verloren gehen, hat man als Lösung zwei Felder angelegt – eins für Lieferantendaten, eins für die eigenen. Ist eine eigene Produktbeschreibung vorhanden, wird die ausgesteuert, wenn nicht, greift das System auf den Text vom Lieferanten zurück.

Hier kommt der Golden Record ins Spiel: Es wird eine Logik bzw. ein Regelwerk entwickelt, damit sämtliche Daten aus externen Quellen und dem eigenen System so zusammengefügt werden, dass immer die jeweils passenden Attribute ausgesteuert werden können. Gleichzeitig können Attribute immer nur aus der jeweils festgelegten Quelle aktualisiert und überschrieben werden, damit nichts verloren geht. Der Golden Record ist also ein Endzustand, in dem gesamte konsolidierte Wahrheit liegt.

Diese Logik lösen die PIM-Systeme aktuell auf unterschiedliche Weise. Im Wesentlichen wird pro Attribut festgelegt, welche Quelle die Hoheit darüber hat. Gibt es gemischte Hoheiten, werden die Prioritäten festgelegt. Mittelfristig werden hier Lösungen mit künstlicher Intelligenz kommen – momentan ist es aber noch menschliche Intelligenz, die diese Regeln bestimmt und verwaltet.

Teile diesen Beitrag in...

2 Kommentare

  1. Besten Dank für das interessante Interview!

    Tatsächlich sollte man bei der Einführung unbedingt im Blick haben, dass die eigentliche Arbeit ja erst losgeht, wenn das “Grundgerüst” steht. Uns als mittelständischem Händler hat damals bei der Einführung von Informatica extrem geholfen, dass sich der Dienstleister auch mit Datenmodellen, BMEcat Anpassungen etc. ausgekannt hat. Hätte man diese Hilfe nicht, benötigt frühzeitig internes Know How. Ansonsten wird einem das neue PIM nicht sehr viel Freude bereiten. 😉

    Eine weitere wichtige Entscheidung: Wird das PIM als führendes System eingeführt oder werden nur Daten angereichert. Hat beides Vor- und Nachteile, welche man gegeneinander abwägen muss. Am besten frühzeitig Gedanken drüber machen. 😉

    Viele Grüße aus Bayern.

    Philipp Wiedmann

    1. Danke für dein Feedback Philipp! Die Entscheidungen im Produktdatenmanagement sind leider wirklich immer mehrschichtig und nie trivial. Ich sehe es auch als absolut wichitig an, dass man sich am Anfang externes, operatives Know-how reinholt, das aber möglichst schnell durch eigenes ersetzt, um selbst handlungsfähig und nicht abhängig zu sein. Cheers, Lennart

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.