Rainer Bürkert ist Geschäftsführer der Würth Industrie Service in Bad Mergentheim und verantwortlich für die Division Industrie der Würth-Gruppe. In diesem Verbund von 56 Unternehmen kümmert sich die Würth-Gruppe um die Belieferung produzierender Unternehmen und erwirtschaftete 2017 mit knapp 3.500 Mitarbeitern einen Umsatz von 1,5 Milliarden Euro. Ein mittelständischer Konzern in einem mittelständischen Konzern also.
Im Interview erzählt Rainer Bürkert von…
…den Anfängen der Würth Industrie Service als Corporate Spin-Off
Nach dem Start in der Konzernrevision hat Rainer Bürkert innerhalb der Würth-Gruppe Karriere gemacht. Als Revisor nahm er sich der „Division Industrie“ an, vor knapp zwanzig Jahren noch eine Abteilung der Konzern-Muttergesellschaft Adolf Würth GmbH & Co. KG. Im Interview erklärt Rainer Bürkert die Entwicklung:
Rainer Bürkert und seinen Mitstreitern war 1993 und 1994 schnell klar, dass der Markt nicht noch einen Händler vertragen würde, der versucht, Ware über den Preis zu verkaufen. Ihnen blieb nichts Anderes übrig, als sich mit den Kunden auseinanderzusetzen. Dabei fiel auf, dass die Industriekunden bald ein Problem in der Beschaffung bekommen würden. Dass ein paar Einkäufer sich um ein paar Schrauben kümmern würden, hatte keine Zukunft, so viel war damals schon klar. Lange vor der Digitalisierung rückte das Thema Beschaffungseffizienz und Total Cost of Ownership in der C-Teile-Beschaffung in den Fokus. Bei der Würth Industrie Service führte diese Erkenntnis damals dazu, ein Dienstleistungskonzept zu entwickeln, dass sowohl logistische, als auch technische, organisatorische und einkäuferische Services vereinte. Innerhalb der bestehenden Strukturen des klassischen Würth-Geschäfts war jedoch an die Umsetzung kaum zu denken. Zu unterschiedlich die Anforderungen der Handwerks- und Industriewelt.
Mit 80 Mitarbeitern zog man damals in Künzelsau aus und an den heutigen Stammsitz, auf das Gelände der ehemaligen Deutschorden-Kaserne, dem Drillberg in Bad Mergentheim. Hier sind mittlerweile 1.500 Mitarbeiter beschäftigt. Im letzten Jahr wurden hier knapp 1/3 der 1,5 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet. Gleichzeitig ist der Standort das Logistikzentrum für ganz Europa.
… der Bedeutung von Dienstleistungen im Mittelpunkt des Unternehmens
Dass mit der reinen Warenverteilfunktion des Handels kein Staat mehr zu machen ist, darüber kann man sich auch mit den härtesten Digitalverweigerern im Handel einigen. Auch die Würth Industrie Service sieht den Unterschied in der Dienstleistung, die sie erbringt. Die „WIS“ übernimmt das Handling kompletter C-Teile-Sortimente der Kunden inklusive Beschaffung, Qualitätsmanagement, Disposition, Wareneingang und Bereitstellung in der Produktion, egal ob bei Standard-, Zeichnungs- oder herstellerspezifischen Teilen. Kern des Unternehmens sind die Logistik und Systeme wie das eigenentwickelte Kanban-System auf RFID-Basis. Daten und Schnittstellen stehen im Fokus.
„Sie kennen ja den Spruch, dass die Daten das Öl des 21. Jahrhunderts sind. Ich würde für uns eher sagen, das ist der Sand und der Zement, der das Unternehmensgefüge zusammenhält.“
Rainer Bürkert, Würth Industrie Service
Die Vereinnahmung und Verarbeitung der Daten, die diese logistische Dienstleistung beinhaltet, ist erfolgskritisch. Insbesondere die Datenkonsistenz lässt im C-Teile-Bereich oft zu wünschen übrig. Diese offene Flanke macht sich Würth zunutze, indem den Kunden das lästige Nachhalten und Aktualisieren von Zeichnungen, Datensätzen und Formaten abnimmt. Niemand riskiert gerne Produktionsstillstände, da sich eine Festigkeitsklasse eines Produkts geändert hat, niemand nimmt wegen einer nicht mehr zugelassenen, chromhaltigen Oberfläche einer Schraube gerne einen Produktrückruf in Kauf. Haben die Kunden zu Beginn ihre Daten nur misstrauisch raugerückt, überwiegt heute die Erkenntnis, dass es keinen anderen Weg mehr gibt, als seine Daten mit den Dienstleistern und Lieferanten zu teilen. Das Unternehmen sitzt mittlerweile auf einem beträchtlichen Datenschatz und weiß mehr über die C-Teile seiner Kunden, als diese selbst.
… der steigenden Bedeutung von E-Procurement und E-Commerce:
Die WIS erhält heute 85% ihrer Auftragspositionen auf elektronischem Weg. Egal ob über RFID-, EDI-, Webshop oder sonstigen Schnittstellen. Die analogen Bestellformen, wie das Fax, nehmen merklich ab. Wie sich Plattformen und deren Bedeutung entwickeln, will Rainer Bürkert nicht orakeln, er sieht jedoch eher eine Chance im MRO- denn im Produktionsbereich. Nur Daten von einer Seite auf die andere zu schieben, da ist sich Rainer Bürkert sicher, wird nicht ausreichen. Die Prozesskette muss komplett beherrscht werden. Ein praktisches Beispiel: Allein bei den Arbeitshandschuhen gibt es 5.500 EU-Sicherheitsklassen. Wer sich hier aufgrund schlampiger Prozesse im Einkauf oder der Bereitstellung Fehlerquellen erlaubt, der riskiert im schlimmsten Fall die Gesundheit seiner Kollegen oder Mitarbeiter. Zugangsberechtigungen, Traceability & Co. sind Themen, die im Procurement über den reinen Beschaffungsvorgang hinausgehen.
Rainer Bürkert teilt die Ansicht, dass E-Procurement und E-Commerce nur Facetten der Dienstleistung sind. Seiner Ansicht nach kaufen Kunden ein Gesamtpaket an Dienstleistungen, das den Bestellvorgang genauso einschließt wie die Reduktion von Verpackungsmüll, die Konsolidierung von Wareneingangssendungen, von Paketboten und sonstigen Prozesskosten, die Unternehmen lästig sind. Bürkerts Antwort darauf ist ein „Systembaukasten“ in dem sich die Komponenten wie Legosteine ineinanderfügen. Am Schluss bekommt jeder Kunde sein individuelles Servicepaket. Blindleistungen, also Leistungen die der Kunde zahlt, aber nicht sieht oder nicht braucht, will die WIS so verhindern.
…Kundenzentrierung und –loyalität bei der Würth Industrie Service:
Gleich zu Beginn der Antwort auf diese Frage sagt Rainer Bürkert einen Satz, der es in viele meiner zukünftigen Vorträge zum Thema schaffen wird:
„Ab einer gewissen Größe können unsere Mitarbeiter nicht mehr unterscheiden, ob sie bei uns oder beim Kunden arbeiten.“
Rainer Bürkert
Soll heißen: Sobald ein Kunde etwas größer wird, bekommt man er sein eigenes Team. Die Kunden haben ihre eigene Sprache, eigene technische Termini, Begriffe für IT-Themen, Abkürzungen. WIS-Mitarbeiter müssen Kunden-Chinesisch sprechen können und sich beim Kunden auskennen. So werden sie irgendwann automatisch Teil des Kunden. Werkszugang und die Berechtigung, beim Kunden dessen Flurförderfahrzeuge zu nutzen. Die Krux des Geschäftsmodells: Die WIS muss sich sehr eng auf den Kunden einlassen. Flexible Mitarbeiterplanung gestaltet sich da schwierig. Für den Kunden muss die Dienstleistung so transparent sein, dass er bis zum Open Book-Prinzip genau sehen kann, was er bezahlt und was er dafür bekommt, so Bürkert. Customer Relationship Management. Die Größe der Teams reicht von zwei bis drei Leuten in der Start-Up-Phase bis zu 30 bis 40 Mitarbeitern bei Konzernkunden.
Die WIS garantiert ihren unsere Kunden, dass im Trennungsfall alle Daten bereitgestellt werden und der Kunde bis zur Ablösung durch den neuen Dienstleister lückenlos versorgt wird. Das sei Grundvoraussetzung für das Geschäft, so Rainer Bürkert. Trotzdem liegt die Kundenfluktuation bei diesem systemisch eng gebundenen Kunden bei unter einem Prozent, welches vor allem durch Werksschließungen und Kundeninsolvenzen zustande kommt. Und dann gibt es aber auch noch ein paar Restliche, wo entweder Fehler gemacht wurden oder sich ein Kunde aus anderen Gründen entscheidet, zu einem Wettbewerber zu gehen.
Das Serviceportfolio der WIS ist in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen. Zu den ersten selbst entwickelten Servicebausteinen kam die Erfahrung mit echten Kunden und deren echten Problemen hinzu. Zwischen 90 und 200 mal wird die WIS in Bad Mergentheim auditiert. Aus der lästigen Pflicht versucht man eine Tugend zu machen. Die Auditoren bringen ständig neue Ideen und Anforderungen in das Unternehmen ein. Alles eine Frage der Perspektive. Weitere Treiber des Baukastensystems sind u.a. neue technologische Möglichkeiten und das interne Innovationsmanagement mit ressortübergreifenden Teams. Innovation aus dem Unternehmen heraus auf die Straße zu bringen beschreibt Rainer Bürkert als „Teil der Genetik“ des Unternehmens.
…der Zukunft in der C-Teile-Industriebelieferung
Obwohl selbst schon zwanzig Jahre im Markt aktiv, ist sich Rainer Bürkert sicher: Die Dienstleistungsbewegung in der Industriebelieferung steht erst am Anfang. Viele Kunden haben sich mit der Materie noch nicht auseinandergesetzt, andere Kunden lediglich in Randbereichen. Die WIS hat im letzten Jahr 1.043.000 unterschiedliche Produkte an die Produktionsbänder ihrer Kunden geliefert. Rainer Bürkert tut sich schwer, die Grenzen des Sortiments selbst bei 15 oder 20 Millionen Teilen zu prognostizieren. Der größte Teil der Digitalisierung des C-Teile-Marktes steht erst noch bevor. Auf maximal fünf Prozent schätzt er den Optimierungsgrad seiner Kundenbranchen in Bezug auf C-Teile-Beschaffung ein. Darüber hinaus haben neue technologische Möglichkeiten, wie Virtual Reality und die VR-Brille, großes Potenzial, für noch mehr Prozesseffizienz zu sorgen.
Das warenausgang.com-Fazit:
Die Würth Industrie Service ist ein sehr gutes Beispiel, wie sich Handelsunternehmen zu Dienstleistern entwickeln können. Jeder, der die Chance bekommt, sich dieses Geschäft einmal aus der Nähe anzusehen, sollte diese Chance nutzen. Daten sind das Rückgrat des Geschäfts, Kundenzentrierung und Innovation das Herz und das Gehirn. So wundert es nicht, dass die WIS in Bad Mergentheim allein am dortigen Standort einen Umsatz von einer Milliarde Euro und 2.000 Mitarbeitern anpeilt. Dafür will Rainer Bürkert keine 20, sondern nur die nächsten sieben Jahre, bis 2025, benötigen.
Ist die Würth Industrie ein cooler E-Commerce Case? Nicht unbedingt. Viel mehr ist das Geschäftsmodell und die Wachstumsstory ein Beweis, dass B2B Digital Commerce weit über schöne Frontends hinausgehen muss, um in einer digitalen Welt relevant zu bleiben.