„Online Pure Player haben keine Chance im E-Commerce. Selbst Contorion stellt ja jetzt Außendienst ein!“ So oder so ähnlich wurde ich in den letzten Monaten öfter auf Contorion und dergleichen angesprochen. Und siehe da: Contorion eröffnet ein Vertriebsbüro außerhalb Berlins, in Düsseldorf, mit Zugang zur gesamten Rhein-Ruhr-Region. Vertreter der eingangs erwähnten These und viele etablierte Marktteilnehmer fühlen sich bestätigt: E-Commerce hat gegen den persönlichen Kontakt keine Chance. Doch vom Contorion-Beispiel können alle was lernen.
Das triumphale Gefühl täuscht meiner Ansicht nach jedoch über die Realität und die tatsächliche Intention eines derartigen Schrittes hinweg. Wer so denkt, hat offensichtlich noch nie das Zusammenspiel aller Touchpoints (Außendienst, Stationärer Shop, Telefonvertrieb, E-Commerce, Lagersysteme, Digital Marketing etc) im Unternehmen und dessen Auswirkung auf die Umsatzentwicklung auf Kundenbasis betrachtet. Allein diese Auswertung zu erstellen stellt viele Unternehmen vor eine unlösbare Aufgabe. Kurz gesagt: In der Regel steigt der Ausschöpfungsgrad des Umsatzpotenzials auf Kundenebene mit jedem weiteren Touchpoint, über den der Kunde regelmäßig erreicht wird. Würth arbeitet schon einige Jahre mit diesem Effekt und nennt das ganze nach außen „Jedem Kunden seinen Würth“.
Contorion hat früh in seiner Entwicklung festgestellt, dass die ursprüngliche Idee eines MRO-/Werkzeugmarktplatzes schwer zu realisieren und zum Erfolg zu führen ist. Ich glaube, hätte man das durchgezogen, gäbe es Contorion heute nicht mehr. Marktplatz-Ansätze wie Procato sind krachend gescheitert, Toolineo ist auf dem besten Weg dazu. Die Gründer von Contorion waren jedoch schlau genug, frühzeitig in den Vertrieb zu investieren.
Heute bezeichnet sich das Unternehmen selbst als „Digitaler Fachhändler“. Daran ist auch überhaupt nichts auszusetzen. Das Vertriebs-/Kundenserviceteam mit branchenerfahrenen Mitarbeitern ist bei Contorion mittlerweile auf über 30 Mitarbeiter angewachsen. Dazu kommt der 2016 in Steglitz eröffnete stationäre Shop. Die Eröffnung der Niederlassung in Düsseldorf ist also nur ein weiterer, konsequenter Schritt einer Strategie, die ihren Proof-of-Concept schon lange erreicht hat.
High Tech trifft auf High Touch
Warum macht das Sinn, egal ob im Schrauben-, Werkzeug-, Elektro- oder Pharmagroßhandel bzw. E-Commerce? Ich habe auf der K5 Future Retail Conference am 04. Juli eine Masterclass gehalten, in der ich genau diese Idee erklärt habe: B2B-E-Commerce bewegt sich zwischen High Tech und High Touch: Digitale Kundeninteraktion (High Tech) vermischt sich mit hoher persönlicher Interaktion (High Touch). Auf High Touch, z.B. ein hohes Maß an persönlichem Kontakt mit dem Außendienst, sind die Kunden in fast allen B2B-Branchen bisher konditioniert. Ein großer Teil des “Touch” wird digitalisiert werden, z.B. weite Teile des First-Level-Customer-Supports (“Wo ist meine Ware?” etc.). Ein Großteil der B2B-Kunden schätzt den persönlichen Kontakt jedoch nach wie vor, diese Gewohnheit macht sich Contorion auch zunutze.
Die Rolle des Außendienstes im Digital-First-Ansatz
Der große Unterschied zwischen Contorion und einem Legacy-Anbieter ist, dass der „Außendienst“ in Berlin und Düsseldorf nicht DER dominante Kanal ist, wie er es in etablierten Unternehmen ist. In allen B2B-Vertriebsorganisationen, in denen ich mich bisher bewegt habe, ist der Außendienst Gatekeeper zum Kunden. Die Kunden werden nicht zentral anhand eines datengetriebenen CRM-Prozesses gesteuert, sondern nach „Bauchgefühl“ des Außendienstes. Anders gesagt: Die Kunden gehören nicht dem Unternehmen, sondern dem Außendienst. Das merken Unternehmen oft spätestens, wenn Außendienstler das Unternehmen verlassen und 60-80% ihrer Kunden „mitnehmen“. In etablierten Unternehmen fast unmöglich, den Außendienst als gleichberechtigten Kanal wie Digital Marketing, E-Commerce oder Telefonvertrieb zu „degradieren“. Zu viele Einzelinteressen und Befindlichkeiten machen es allein schon unmöglich, überhaupt darüber nachzudenken, der Endboss unter den Change-Management-Prozessen.
Datengetriebener Vertrieb
In einem Digital-First-Vertriebsansatz ist der Vertrieb nicht mit einem Bündel gedruckter Broschüren unter dem Arm auf sich allein gestellt. Vertriebsmitarbeiter sind eingebettet in eine Vielzahl breit gefächerter Digitalmarketing-Maßnahmen. Zudem sind Anbieter wie Contorion in der Regel schlau genug, sehr früh ihre Daten in Data Lakes gesammelt zu haben. Der Unterschied zwischen diesen Data Lakes und den üblichen Datensilos etablierter Unternehmen ist, dass dort alle Daten verfügbar sind, um jegliche Form von Auswertung und Information aus ihnen zu generieren. All das ohne die üblichen Probleme, wenn Daten aus zwei „Silos“ übereinandergelegt werden sollen.
Der Vorteil besteht darin, dass datengetrieber Cross-Channel-Vertrieb viel mehr Datenpunkte zur Verfügung hat und die Informationen über den Kunden so um ein Vielfaches genauer werden. Die wenigsten Unternehmen können heute alle Datenpunkte aus allen Kanälen in allen Kanälen verlässlich und unfallfrei nutzen. Beispiel: Die Recommendation Engine im Shop bezieht nur Informationen aus dem Shop mit ein, nicht aus dem Außendienst- oder Telefonvetrieb, der Außendienst wiederum sieht nicht, was sich Kunden gestern im Online Shop angesehen aber nicht gekauft haben.
Die Data-Lake-Architektur sorgt dafür, dass sich alle Channels an allen Datenpunkten bedienen können. Cross-Channel-Personalisierung at it’s best:
- Welche Produkte hat der Kunde im Warenkorb liegen und noch nicht gekauft?
- Erhöht die Conversion Rate im Verkaufsgespräch
- Welche Artikel tauchen über alle Channels oft zusammen in Aufträgen auf und sind daher spannend für die Recommendation Engine?
- Erhöht die Conversion Rate im Online Shop
- Welche Artikel kauft dieser spezielle Kunde nicht, die andere Kunden aus der gleichen Branche aber kaufen?
- Erhöht an verschiedenen Kontaktpunkten die Conversion Rate
- Wann hat der Kunde das letzte Mal eine Marketing-E-Mail von uns erhalten und was hat er darin angeklickt?
- Erhöht die Gesprächsqualität beim Außendienstbesuch
- Wann steht der nächste Außendienstbesuch laut Tourenplanung an und welches Thema hat der Außendienst als Gesprächsthema vorgesehen?
- Verschickt automatisch eine E-Mail zum Thema um den Termin inhaltlich vorzubereiten
Abholshops vs. Vertriebsbüros
Die letzte Frage, die in gegebenem Kontext bei Contorion noch zu klären bleibt: Machen Vertriebsbüros mit oder ohne Store mehr Sinn? Grundsätzlich dienen Niederlassungen im B2B-Handwerksvertrieb eher dem Zweck, den Sofortbedarf von Kunden im Baubereich zu decken. Kein unattraktiver Teil des Geschäfts. Kunden sind darauf vorkonditioniert, dass sie nahezu jedes benötigte Produkt innerhalb einer Stunde irgendwo im Fachhandel oder in einer der Hilti-, Würth-, Förch-, Raab Karcher-, Reca- oder Berner-Niederlassungen zukaufen können.
Ich bin skeptisch, ob dieser Channel für Contorion überhaupt in Frage kommt. Ein Shop-Netzwerk ist ein signifikanter Kostenblock, Mietverträge sind langfristig und die Flexibilität ist gering. Um wettbewerbsfähig zu sein, muss man ca. 3.000 – 5.000 Schnelldreher permanent verfügbar haben. Von einem echten Netzwerk kann man zudem erst sprechen, wenn eine große Fläche abgedeckt wird. Würth hat mittlerweile ca. 500 Niederlassungen in Deutschland, doppelt so viele wie noch 2008. Selbst wenn Contorion also perspektivisch 50 stationäre Shops an den absoluten Hotspots eröffnet – es würde sich nur schwer als Wettbewerbsvorteil auszahlen. Anders z.B. das Showroom-Konzept von GastroHero, die darin ihren Kunden und Interessenten vor allem ihre Küchengroßgeräte präsentieren. Hier wirkt der stationäre Laden als Marketingkanal, ungefähr so wie SEA-Maßnahmen im Online Marketing.
Digital First Cross Channel kann sehr mächtig sein
Je besser Contorion (und andere) die Kundenbeziehung über alle analogen und digitalen Kanäle managen und steuern, desto höher die Aussichten auf Erfolg. Die nahtlose Verbindung von beiden ist schwierig zu realisieren, vor allem in Legacy IT- und Datenstrukturen, dafür aber auch sehr mächtig. Von Contorion kann man sich bislang im Digitalmarketing und der Verbindung mit analogen Vertriebsformen viel abschauen. Geschäftsmodelle, die High Touch und High Tech nicht unter einen Hut bekommen, haben Nachteile im Wettbewerb mit diesen smarten Digital-First-Ansätzen. Das gilt für etablierte Händler genauso wie für Online Pure Player.
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